Was für Rollstuhlfahrer/innen Treppen sind, ist Standardsprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten: Barrieren, die man wegräumen muss und kann, sagt das "Netzwerk Leichte Sprache"

Übersichtlich: viele Absätze, deutliche Überschriften und Illustrationen

Vor sechs Jahren wird Gisela Holtz ein Mangel bewusst. Seit 1998 bieten sie und Kirsten Faust vom Münsteraner Verein "Zugvogel" Rollstuhlfahrer/innen einen Service für barrierefreien Urlaub im In- und Ausland inklusive Adressenpool und eigenem Reiseführer. Und sie beraten andere Gruppen darin, mittels eines speziellen Computerprogramms solche Reiseführer zu erstellen.

Bei einem Seminar in Tübingen wird an Holtz der Wunsch nach einem gemeinsamen Reiseführer für alle Menschen mit Behinderungen herangetragen. Also auch für so genannte "geistig Behinderte". Das geht nicht, bemerkt Holtz. Dafür ist die Sprache in ihrem Barrierefrei-Programm zu kompliziert. Was sie auf die Idee bringt, etwas zu schaffen, das wirklich alle verstehen können, die selbst bestimmt reisen wollen. Auch die, denen eine zu schwierige Sprache im Weg ist, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Hinweistafeln, oder eben in Reiseführern.

Dezember 2005 ist es soweit. Der erste - und bisher einzige - Reiseführer in leichter Sprache erscheint für Münster. Entstanden in Kooperation mit "Mensch zuerst / People first". Das ist der deutsche Ableger eines 1974 in den USA entstandenen weltweiten Selbsthilfenetzwerks von "Menschen mit Lernschwierigkeiten". Die Bezeichnung "geistig Behinderte" lehnen sie als diskriminierend ab. Seit Jahren arbeiten Geschäftsführer Stefan Göthling, Gründungsmitglied Josef Ströbl und andere von Kassel aus als Expert/innen in eigener Sache. Sie haben ein Wörterbuch für leichte Sprache verfasst, das schon in sechster Auflage erscheint, Materialsammlungen für Selbstvertretungsgruppen und vieles mehr.

Das Ziel von "Mensch zuerst" - die volle gesellschaftliche Gleichberechtigung - soll nun auf breiterer Basis verwirklicht werden: mit dem "Netzwerk Leichte Sprache". Initiativen aus Bremen, Münster, Kassel, Leipzig und Graz, Betroffene und Unterstützer/innen haben sich hierin zusammengeschlossen, um ihre Arbeit zu bündeln. Auf einem Kongress Ende 2006 in Münster wurden einzelne Projekte vorgestellt.

Einfach und kurz

Das ist "leichte Sprache": Verwendet werden einfache, kurze Wörter aus der Alltagssprache, keine Fremdwörter und keine abstrakten Formulierungen. Ein Beispiel: "Über den nationalen Tellerrand hinausschauen" wird in einer Broschüre zur europäischen Behindertenpolitik erwartet. Ein gängiges Bild, für Betroffene aber oft zu schwierig. "Man muss auch wissen, was außerhalb von Deutschland für behinderte Menschen gemacht wird!", heißt das dann in leichter Sprache. Tätigkeitsworte sind besser als Hauptworte. Oft wiederholte Begriffe erleichtern das Verständnis. Ebenso möglichst kurze Hauptsätze. Wörter sollten nicht getrennt werden. Eine große, linksbündige Schrift, viele Absätze und deutliche Überschriften machen die Texte übersichtlich. Illustrationen können zusätzlich erklären. Bei der Übersetzung aus der "Normalsprache" werden Texte von Betroffenen mindestens dreimal auf Verständlichkeit geprüft, bevor sie den Stempel "leichte Sprache" erhalten.

Leichte Sprache hat nichts zu tun mit der "Kinder-Sprache", die in der "Sendung mit der Maus" gesprochen wird. "Das ist ganz wichtig", so Stefan Göthling. Schließlich gehe es um Erwachsene, die sich nicht als "zurück geblieben" diskriminieren lassen wollen. Leichte Sprache ist aber auch nicht "nebenbei erlernbar", betont Kirsten Faust von "Zugvogel". Ziel sei "eine Art Führerschein" für Übersetzer/innen und ein Prüfzeichen, dass die Regeln eingehalten werden. Es spreche aber nichts dagegen, wenn andere eine abweichende leichte Sprache verwenden.

"Nur wer Wissen hat, kann für seine Rechte kämpfen", sagt Göthling. Was das heißt, wird klar, wenn etwa Anti-Diskriminierungs-Gesetze nur in reinstem Bürokratendeutsch vorliegen. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind hier erst recht ausgeschlossen. Das kann man ändern. "Atempo", die Grazer Organisation "zur Gleichstellung von Menschen", hat kürzlich das österreichische "Behindertengleichstellungspaket" übersetzt. Im Auftrag des Wiener Sozialministeriums. Dazu aber war, so ist zu hören, ein längerer Lobby-Druck nötig. Das "Büro für leichte Sprache" der "Lebenshilfe Bremen" übersetzte die Internetseite des dortigen Landesbehindertenbeauftragten. Anfänge, Texte barrierefrei zu machen, die doch eigentlich der Barrierefreiheit dienen sollten. Jetzt fordert das Netzwerk, alle Gesetze in leichte Sprache zu übersetzen.

Verstehen, was einen betrifft

Emanzipation beginnt - oder scheitert - schon im Alltäglichen. Josef Ströbl, Prüfer und Übersetzer für leichte Sprache bei "Mensch zuerst" macht das deutlich. Er ist ein Mensch mit Lernschwierigkeiten, Brillenträger, Diabetiker. Er will Dinge, die ihn betreffen, selbst verstehen, Beipackzettel, Briefe, Verträge, die Zeitung, Formulare selbst ausfüllen können. "Es geht um meine Selbstbestimmung", sagt der 52-Jährige. Ein wichtiger Anstoß sei da auch der Reiseführer der "Zugvögel" Gisela Holtz und Kirsten Faust.

Der wurde bisher gut 400 Mal verkauft, meist regional, aber auch deutschlandweit. Zielgruppe sind alle, "die nicht gut schwierige Texte lesen und verstehen können". Sechs touristische Routen durch Münster werden nebst nützlichen Adressen in einem bebilderten Buch vorgestellt. Dazu gibt es eine CD zum Hören und Sehen. Holtz und Faust suchten die Touren aus und schrieben die Texte. Zuvor wurden gut 200 Fragebögen an Menschen mit Behinderungen verteilt. Wenig überraschend deckten sich die Erwartungen mit denen der touristischen Allgemeinheit. Ströbl und andere von "Mensch zuerst" übersetzten die Texte und testeten die Routen. Die "Aktion Mensch" förderte das Ganze als Pilotprojekt. Konkrete Folgeprojekte in anderen Städten gibt es bislang nicht. Die Finanzierung fehlt.

Die 59-jährige Gisela Holtz und die 20 Jahre jüngere Kirsten Faust sind Unterstützerinnen, selbst ohne Behinderungen. Sie lachen viel, aber bestechen durch ihre Kompetenz und ihr Einfühlungsvermögen. Viele Jahre waren sie in der Flüchtlingshilfe tätig. Dort lernten sie eine Rollstuhlfahrerin kennen, mit der Holtz dann auch zusammen wohnte. Aus der Erfahrung des miteinander lebens wuchs die Idee vom "Zugvogel", der Einsatz für Barrierefreiheit. Gisela Holtz sagt: "Wir haben unsere Bereiche stetig erweitert, aber der Kern bleibt: Menschen mit Behinderungen selbstständiges, individuelles Reisen zu ermöglichen." Eine Arbeit, die sie ausdrücklich als politische verstehen.

"Leichte Sprache nützt allen", ist ein Grundsatz des Netzwerks. Sie ermögliche Kommunikation und erfülle das Bürgerrecht auf Barrierefreiheit. Dass dafür noch viel Überzeugungsarbeit nötig ist, ist den Netzwerker/innen klar. Schon, weil eine möglichst "komplizierte" Ausdrucksweise in der Standardsprache Kompetenz signalisiert. Trotzdem ist es für viele Betroffene, die sich traditionell als "Betreute" wahrnehmen mussten, oft noch gewöhnungsbedürftig, nun als Sprachexpert/innen in eigener Sache gefragt zu sein. Aus der Politik, so ihre gängige Erfahrung, kommt immer mal wieder Lob in Sonntagsreden. Doch dann oft nichts mehr.

www.poeple1.de

www.holtz-und-faust.de

www.atempo.at

Leichte Sprache ist keine Kinder-Sprache und auch nicht nebenbei erlernbar