Eine wachsende Zahl von Unternehmen zahlt nur noch Niedriglöhne. Der Staat muss einspringen. Helfen kann ein gesetzlicher Mindestlohn. Aber der ist politisch nicht gewollt

Eine alleinerziehende Mutter, endlich ein neuer Job. Der neue Lohn: 4 Euro brutto die Stunde

Von Maria Kniesburges

Immer mehr Menschen in Deutschland bekommen für ihre Arbeit immer weniger Geld. Das ist kein Naturereignis, sondern das Ergebnis gezielter Politik. Die Zahlen sind bekannt: Jeder fünfte Beschäftigte in der Bundesrepublik arbeitet zu einem Niedriglohn. Nicht nur das: Zugleich sind die Niedriglöhne dramatisch gesunken, nämlich um knapp 14 Prozent in dem Zeitraum von 1995 bis 2006. Die Einkommen in den höchsten Gehaltsklassen sind dagegen um zwölf Prozent gestiegen. So beschreibt eine Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen die Dimension des gesellschaftlichen Abstiegs (siehe auch ver.di PUBLIK 3/2008).

Der freie Fall des Niedriglohns setzt sich bis heute fort. Auch der vorübergehende konjunkturelle Aufschwung hat den Sog nach unten nicht gebremst. Und während die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker, flankiert von den Medien, nicht müde werden, den Billiglohnsektor als Chance gerade für die gering Qualifizierten zu preisen, geraten die weniger Qualifizierten im Niedriglohnbereich in die Minderheit: Rund 70 Prozent der niedrig Entlohnten haben einen Berufsabschluss oder sind Akademiker.

Als Niedriglohn galten im Jahr 2006 im Westen Deutschlands bekanntlich Löhne unter 9,61 Euro brutto die Stunde, im Osten Löhne bis zu 6,81 Euro. Laut Studie lag der durchschnittliche Niedriglohn im gleichen Jahr im Westen bei 6,89 Euro brutto die Stunde, im Osten bei 4,86 Euro. Knapp zwei Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als fünf Euro die Stunde. Üppig profitiert haben dagegen die Unternehmen: Ihr Bruttogewinn ist in den vergangenen drei Jahren um 25 Prozent gestiegen, wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung errechnet hat. Soweit die radikale Umverteilungspolitik in Zahlen ausgedrückt.

Politik fernab der Realität

"Der Aufschwung ist bei den Menschen angekommen", freute sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im vergangenen November. Eine Botschaft fernab jeder Realität. Die Politik der Großen Koalition in Berlin nimmt den Absturz von Millionen Menschen in den so genannten Billiglohnsektor nicht nur billigend hin, sondern betreibt ihn als wirtschaftspolitisches Programm.

Die Weichen dafür hat ihre rot-grüne Vorgängerregierung gestellt. Deren arbeitsmarktpolitische Rezepte hießen Ausweitung der Teilzeitarbeit, unbefristete Leiharbeit, Förderung von Minijobs, Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose - all das unter der Überschrift Hartz-Reformen. Das Ergebnis: Die Menschen gehen arbeiten, entlasten die Arbeitslosenstatistik, und weil ihr Lohn zum Leben nicht reicht, müssen sie beim Staat aufstockende Hilfe nach Hartz IV beantragen. Der Staat zahlt die Löhne, die von den Firmen verweigert werden. Ein gigantisches Subventionsprojekt, finanziert aus Steuermitteln, die etwa im Bildungs- und im Gesundheitswesen fehlen.

Statt einer Abkehr von dieser Politik wird der Druck auf das ohnehin katastrophale Lohngefüge derzeit noch verschärft. Allenthalben wird vorgerechnet, dass der derzeitige Hartz-IV-Satz von 351 Euro im Monat den tatsächlichen Bedarf überschreite. Das Existenzminimum wird nach unten gerechnet - und damit der Hungerlohn legitimiert. Aufgehalten werden könnte der dramatische Absturz durch die Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, wie er in den meisten europäischen Ländern längst gilt. Doch am Standort Deutschland regiert eine andere Politik.