Auferstanden aus Ruinen

Die Osteopathen bauen auf die Selbstheilungskräfte des menschlichen Organismus

Der Termin kommt mir grade recht. Freitagnachmittag, hinter mir liegt eine Woche voller Großstadt-Stress, vor mir verdunkelt Arbeit die Aussicht auf das Wochenende. Rita Wilkens Praxis liegt in einer hübschen, verkehrsberuhigten Straße im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Kinder schlecken Eis in der Sonne, auch beim Türken sind die Bänke voll besetzt. Autos liegen hier in der Prestige-Kette ganz hinten, Parkplatz Fehlanzeige.

"Na, Sie sind ein Kiefer-Typ", sagt mir Rita Wilken mitten ins Gesicht, als ich mit den Zähnen mahlend ihre Praxis betrete. Bei diesem Typ rutscht der Stress nicht bis zum Magen, sondern krallt sich bereits oben in der Kauleiste fest. Ich bin einige Minuten zu früh dran und kann mich erst mal umsehen. Die ausgebildete Osteopathin, Physiotherapeutin und Heilpraktikerin nutzt eine ihrer wenigen Fünf-Minuten-Pausen, um ganz schnell ihr neues Fahrrad auszuprobieren. Ihr Mann hat es grade draußen eingestellt und strahlt, während sie von links nach rechts radelt. Dann bin ich plötzlich ganz der Mittelpunkt, beim Gespräch im Behandlungsraum.

Die Kanäle der Lebenskräfte

Die eine Wand ziert eine schwarz glänzende Neobarock-Tapete, alle anderen sind hell gestrichen. Eine Liege, Landschaftsbilder an der Wand, ein Schreibtisch. Darauf eines dieser Modell-Männchen; mit den Strichellinien erinnert es an die Tafeln, auf denen der Metzger die leckeren Teile der moribunden Tiere markiert. Hier sind es natürlich die Meridiane, Kanäle unserer Lebenssäfte.

Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, um die Rita Wilken alle ihrer Patient/innen im Voraus bittet. Ich habe alle Zipperlein aufgelistet, die mich seit Gedenken ereilt haben: Unfälle, Krankheiten, Narben, schlechte Angewohnheiten, Brüche, Operationen, Krankenhausaufenthalte, Medikamente, Beschädigungen aller Art. Da kommt einiges zusammen, den Rest sieht mir die erfahrene Heilpraktikerin an: zu wenig getrunken, der Rücken im oberen Bereich völlig verkrampft und "bestimmt freiberuflich, so wie Sie aussehen", sagt sie. Sie fragt nach Zähnen, Herz und Nieren. Ich bin platt.

Der Osteopath als Mechaniker

Schon 1874 stellte der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still seine Philosophie und Praxis der Osteopathie (Osteo - Knochen; Pathos - Leiden) vor. Sie wurde bald zu einem Teil der amerikanischen und britischen Schulmedizin, später folgten Belgien und Frankreich, Deutschland erst 1988.

Andrew Taylor Still fand, es werde zu viel operiert und man gebe den Patienten zu viele unnötige Medikamente, anstatt sich über die Zusammenhänge des menschlichen Organismus schlau zu machen. Statt an einzelnen Bereichen herumzudoktern, begriff er den menschlichen Körper als Einheit, der über selbstheilende Mechanismen, also Immunkräfte, verfügt. Klemmt etwas im Getriebe, kann dies an ganz anderer Stelle des Körpers zum Problem werden. Dem Osteopathen kommt dabei die Rolle eines Mechanikers zu, der den Organismus wartet und entscheidende Stellschrauben lockert oder festdreht. Durch das Lösen von Gelenkblockierungen oder das "Glätten" innerer Organe können sich Knoten auflösen, durch den Körper können alle Säfte wieder ungehindert durchsausen und ihn so gesunden lassen. Um dieser Ursache-Folge-Kette auf den Grund zu gehen, ist die Befragung und eingehende Tastuntersuchung ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung.

Die Techniken

Rita Wilken wendet bei mir als Erstbehandlung alle drei Techniken an. Los geht's mit der "Osteoartikulären Technik". Hierbei geht's um Diagnose und Behandlung von Dysfunktionen der Gelenke. Mit geübtem Griff, kräftig, aber angenehm, dreht und beugt Rita Wilken meine Knie, verlagert ihr Gewicht auf die Hüften und Schultern, faltet mich in die Embryostellung, greift unter Ellenbogen, dreht und wendet Arme, und ich spüre, wie es angenehm und erlösend kracht im Gebälk.

Als nächstes kommt die "vizerale Technik", die die Beweglichkeit und Eigenbewegungen der Organe verbessert. Rita Wilken beginnt, sanft meinen Bauch in Darmhöhe durchzuwalken und guckt mich nach kurzer Zeit erstaunt an: "Was haben Sie denn heute gegessen?" Ich murmle etwas von Schweinebraten und zuviel Hausmannskost der ver.di-Kantine. "Donnerwetter", sagt sie, bewegt den Klops hin und her. Mein Darm antwortet zufrieden mit hörbarem Gegrummel.

Die "Cranio-sakrale Technik" kommt zum Schluss. Rita setzt sich an mein Kopfende und beginnt, auf verschiedene Stellen an Kopf, Nacken und Schultern sanften Druck auszuüben. Sie ertastet meinen cranio-sakralen Rhythmus, was nichts mit esoterischen, sondern mit professionell erlernbaren Methoden zu tun hat. Zum Beispiel Hals-Nasen-Ohren-Probleme, Schleudertraumen, Schädeloperationen und Kiefergelenksprobleme können so, in Ergänzung (schul)medizinischer Behandlung, erfolgreich behoben werden. Mir wird das an dieser Stelle zu kompliziert, ich gebe mich dem sanften Druck hin und fange an, mich langsam und tief zu entspannen.

Als ich von der Liege aufstehe, bin ich wie neu. Mein Körper beweglich, mein Geist leicht und beschwingt, ein wenig benebelt. "Sie waren wie ein zerknülltes Tischtuch, das habe ich erstmal ausgeschüttelt", sagt Rita Wilken. Nächster Termin in zwei Wochen, empfiehlt sie mir; beim nächsten Mal werde sie gezielt an den Schwachstellen arbeiten, die sie heute erkundet hat. Danach alle halbe Jahre eine Behandlung würde mir gut tun. Bei 50 Euro für die Behandlungsstunde erfreut mich diese erschwingliche Perspektive. Man gönnt sich ja sonst nix.

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