Der 1. Mai war in diesem Jahr in der Türkei erstmals seit 1980 wieder allgemeiner Feiertag

Am 1. Mai 2009 auf dem Taksim-Platz

Von Dilek Zaptcioglu und Jürgen Gottschlich

Es war die Erfüllung eines Traums, der Lohn für jahrzehntelange Arbeit und Ergebnis des Kampfes für die Rechte der türkischen Arbeiter. Als Süleyman Celebi, Vorsitzender des Revolutionären Gewerkschaftsdachverbandes DISK am 1. Mai auf dem Taksim-Platz in Istanbul stand, hatte er Tränen in den Augen. "Wessen Herz noch mitmacht, der kommt heute mit uns auf diesem Platz an", sagte er. "Heute ist ein Durchbruch für die linke Arbeiterbewegung der Türkei. Im nächsten Jahr werden wir zu Hunderttausenden hier stehen."

Der Blut-Mai 1977

Tatsächlich hat die türkische Gewerkschaftsbewegung in diesem Jahr einen Erfolg errungen. Erstmals seit dem Putsch 1980 ist der 1. Mai wieder ein allgemeiner Feiertag und erstmals seit dem Blut-Mai 1977 durften die Gewerkschaften wieder auf dem zentralen Taksim-Platz eine Gedenkfeier abhalten. Auch wenn die Polizei nur 5000 Gewerkschaftsvertreter durchließ und die Masse der Demonstranten in die Seitenstraßen gedrängt wurde - der Auftritt war ein symbolischer Vorgang. Denn mit den Todesschüssen auf dem Taksim-Platz am 1. Mai 1977 begann die Unterdrückung der türkischen Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften haben sich bis heute noch nicht davon erholt. Damals war die DISK auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sie hatte tausende Aktive und mehr als 500000 selbstbewusste Mitglieder, die keinem Arbeitskampf aus dem Weg gingen. Streiks gehörten zum Alltag in den Betrieben.

Unbekannte Killer eröffneten 1977 das Feuer auf die Demonstranten und töteten 36 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Augenzeugen berichteten von zivilen Scharfschützen, die von den Dächern der umliegenden Hochhäuser in die Menge schossen. Die Täter sind bis heute unbekannt. Das Massaker setzte eine Gewaltspirale zwischen linken Militanten und Faschisten in Gang, die dem Militär den Vorwand lieferte, im September 1980 zu putschen. Die Gewerkschaftsbewegung wurde daraufhin von den Putschisten zerschlagen. Sämtliche Funktionäre, darunter der heutige DISK-Chef Süleyman Celebi, verschwanden über Jahre in Gefängnissen, jede gewerkschaftliche Organisation war verboten.

Der Tiger wird wieder stark

Zugelassen wurde dann lediglich der Gewerkschaftsdachverband Türk IS, der heute noch der größte Verband ist und vom Staat und den Unternehmern protegiert wird. Die Prozesse gegen die DISK-Führer dauerten bis in die 90er Jahre, erst ab 1992 durfte die DISK wieder Arbeiter organisieren. Allerdings führte die Junta ein Arbeits- und Streikrecht ein, das bis heute nicht grundlegend reformiert wurde und die Gewerkschaften zu zahnlosen Tigern degradiert. Juristische Klauseln machen ihnen das Leben schwer, einen legalen Streik zu organisieren ist rechtlich so gut wie unmöglich. Doch obwohl die Gewerkschaftsbewegung heute in drei Dachverbände zersplittert ist - die Türk Is, die islamisch grundierte Hak Is und die linke DISK - ist die organisierte Arbeiterschaft wieder stärker geworden. So konnte die DISK, die bei ihrer Neugründung 1992 nur 80000 Mitglieder hatte, mittlerweile wieder über 400000 Arbeiter organisieren. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre, die Annäherung an die EU und die bessere internationale Einbindung der türkischen Gewerkschaften haben die Mitglieder selbstbewusster gemacht.

Langsam zeigte sich in den letzten Jahren auch wieder die Bereitschaft, für die eigenen Rechte zu kämpfen. In der Textilindustrie setzten Gewerkschaften internationale Modeketten unter Druck, bei ihren türkischen Produzenten bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, und in der schnell wachsenden Werftindustrie gab es wilde Streiks, um einen besseren Arbeitsschutz durchzusetzen. Dass der Gewerkschaftsdachverband DISK am 1. Mai wieder den Taksim betreten durfte, ist Ausdruck dieses gewachsenen Einflusses. Allerdings hat die Weltwirtschaftskrise auch die Türkei getroffen. In wenigen Monaten ist die Zahl der Arbeitslosen auf über 20 Prozent gestiegen. Obwohl es schwierige Zeiten für gewerkschaftliche Forderungen sind, verschwindet das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Organisation nicht wieder. Ein Anfang ist gemacht.