VON ANNEGRET BÖHME

Katja Urbatsch guckt gern über den Tellerrand. Obwohl in ihrer Verwandtschaft nicht üblich, ging sie an die Uni. Sie studierte Nordamerikanistik, BWL und Publizistik. „Ich wollte meinen Horizont erweitern”, sagt sie und rührt in einer Tasse Kakao mit Chili. Heute promoviert Urbatsch über amerikanische Literatur. Das Café in der Gießener Innenstadt ist hell und ruhig: Kronleuchter, ein Klavier in der Ecke. Ihre Augen sind so klar, wie ihr Blick offen ist. Sie hat an der Uni nicht nur Scheine gemacht, sondern auch den akademischen Betrieb beobachtet: Arbeiterkinder begegneten ihr kaum. Katja Urbatsch spricht in hohem Tempo: „Dabei liegt das größte Potenzial bei den Kindern von Nicht-Akademikern. Die anderen studieren ja schon.” Urbatsch hat „Arbeiterkind.de” erfunden. Die Webseite ermuntert Schüler/innen aus nichtakademischen Familien zum Studium und berät Student/innen, deren Eltern selbst keine Hochschule besucht haben. „Wir machen Mut, und zeigen, dass studieren sich lohnt.” Urbatsch kennt Abiturient/innen, denen Berufsberater vom Studium abrieten, weil die Finanzierung zu schwierig sei. Für manche ist schon das Geld für die Bahnkarte zum Eingangstest der Universität die Hürde, an der sie scheitern können. Andere studieren gegen den Widerstand der Familie. „Gerade die Intelligentesten haben oft die größten Selbstzweifel”, sagt Urbatsch. „Die wissen nicht, wie sie sich selbst für ein Stipendium empfehlen sollen.”

Katja Urbatsch ist 1979 geboren, aufgewachsen in Rheda-Wiedenbrück, hat einen Bruder. Ihre Eltern machten eine Banklehre, der Vater ist selbstständiger Immobilienmakler. Sie macht 1998 Abitur, studiert Nordamerikanistik, Betriebswirtschaft und Publizistik an der FU Berlin. Seit 2007 Doktorandin am Internationalen Graduiertenzentrum Gießen, Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Gründet 2008 Arbeiterkind.de – ausgezeichnet unter anderem von der Friedrich-Ebert- und der Hans-Böckler-Stiftung, die Körber-Stiftung fördert ein einzelnes Projekt an einer Brennpunktschule in Hamburg.

Soziales Netzwerk

Arbeiterkind.de ging vor anderthalb Jahren online, vom Laptop ihrer Studentenbude aus. Die Website hat inzwischen 10 000 Besucher/innen im Monat. Aus der Initiative ist eine gemeinnützige Organisation mit einem sozialen Netzwerk aus bundesweit 1200 Mentor/innen geworden. Sie gehen in Schulen oder organisieren Stammtische. Urbatsch hat dem Bundespräsidenten und der Kanzlerin die Hände geschüttelt, viele Interviews gegeben und Preise entgegen genommen. Nur etwa die Hälfte der Abiturient/innen aus Nicht-Akademiker-Familien studiert. Die meisten Stipendien gehen an Akademikerkinder. Schon bei der Empfehlung fürs Gymnasium spielt der familiäre Hintergrund eine Rolle. Urbatsch kennt diese Studien, aber sie spricht nur von ihren eigenen Erfahrungen. Sie erinnert sich gut an die Unsicherheit, mit der sie im ersten Semester die Freie Universität Berlin betrat. „Ich habe mich nur in Seminare von Assistenten getraut und keinen Ton gesagt.” Die Fremdwörter, die Ausdrucksweise und der ungewohnte Habitus der Wissenschaftler/innen schüchterten sie ein. Urbatschs Eltern sind gelernte Bankkaufleute. Sie weiß noch, wie hilflos sie waren, als ihr zwei Jahre älterer Bruder aufs Gymnasium wollte, aber dafür keine Empfehlung bekam. „Das war ein Riesenstress. Damals dachte ich noch, es läge an den Noten.” Mittlerweile studiert er Philosophie. Als sie selbst an der Universität war und nicht wusste, wie sie die erste Hausarbeit schreiben sollte, erfuhr sie, dass manche Kommiliton/innen solche Texte mit dem Vater verfassten. Andere lebten seit dem Grundstudium von Stipendien, von denen Urbatsch nie gehört hatte. „Meine Eltern konnten mir nur zeigen, wie man Briefe schreibt und Unis um Infomaterial bittet.” Aber sie hatte Glück. Ihrer eigenen Grundschullehrerin war klar, dass Katja das Abitur schafft, ihr Basketballtrainer ermunterte sie, eine Mannschaft zu trainieren. Potenziale bei anderen zu entdecken, hat sie von ihnen gelernt. Ihre Eltern respektierten ihren Studienwunsch und finanzierten sie. Heute unterstützt die ganze Familie Arbeiterkind.de. Ihre Mutter macht die Buchhaltung, ihr Bruder kümmert sich um die Organisation, ihr Freund gestaltet das Webdesign. Schon in ihrem Grundschulzeugnis steht, dass Katja ihre Meinung vertritt und sehr hilfsbereit ist. Heute ist ihr nicht mehr anzumerken, dass sie im Grundstudium unsicher war. Sie strahlt ruhige Selbstgewissheit aus – wie ein Mensch, der erlebt hat, dass das, was er tut, gut ist. Sie äußert weder Groll noch Wut und beendet kleine Ausführungen oft mit einem freundlichen Lachen. "Ich traue mich heute, dumme Fragen zu stellen." Ein Jahr an der Boston University, als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes, hat viel zum Selbstbewusstsein beigetragen. "Da standen die Türen der Professoren immer offen", sagt sie "und die haben mich gefragt, was mich interessiert!" Sie klingt heute noch erstaunt, wenn sie davon erzählt. Es war ermutigend. „In Deutschland haben wir eine Atmosphäre von Entmutigung.” Sie hat viel mit Schüler/innen zu tun, die von Lehrer/innen oder Eltern ausgebremst werden. "Die Angst vor Fehlschlägen ist viel größer als der Glaube an das, was die Kinder können." Chancengleichheit spielt in der deutschen Bildungspolitik kaum noch eine Rolle, das System versagt, nicht nur Einzelne. Doch Urbatsch stellt keine politischen Forderungen. Diese Mühle mahlt ihr zu langsam. „Wir sind pragmatisch und überparteilich.” Ihr Bruder ist Grüner, der Freund in der FDP. „Und was wir machen, ist eigentlich simpel”, sagt sie, „wir sprechen Jugendliche direkt an”.

Eine neue Gemeinschaft

Am Abend sitzt Katja Urbatsch im Frankfurter Stattcafé und trifft sich mit vier Mentor/innen zum Stammtisch. Alle sind Arbeiterkinder, drei davon Akademiker/innen. Sie besprechen, wie andere von ihren Erfahrungen profitieren könnten. Eine Mentorin will Gymnasiasten bei der Berufswahl coachen. Urbatsch nickt viel, sie gibt Tipps und ihre rechte Hand redet immer mit. Sie spinnt Ideen weiter und strahlt Zuversicht aus. Sie ist eine Netzwerkerin mit bester Absicht. An der Universität leitet Katja Urbatsch inzwischen selbst Seminare, in denen sie Begriffe wie „Eskapismus” für Realitätsflucht verwendet. Im Interview zitiert sie Heinrich Heine. Aber draußen auf der Straße, nach dem Stammtisch, sagt sie: „Ich habe nicht das Gefühl, in der akademischen Welt zu Hause zu sein. Und von dort, wo ich her komme, habe ich mich auch wegentwickelt.” So geht es wohl Menschen, die ihre Nase über den Tellerrand stecken, weil sie neugierig sind. Aber wer so lebt, kann sich darüber freuen, wenn die Student/innen im Seminar sich trauen zu fragen, was denn beispielsweise „Eskapismus” bedeutet. Für Katja Urbatsch ist das Vertrauen – und ein Kompliment.

„Die Angst vor Fehlschlägen ist viel größer als der Glaube an das, was die Kinder können.”

Katja Urbatsch ist 1979 geboren, aufgewachsen in Rheda-Wiedenbrück, hat einen Bruder. Ihre Eltern machten eine Banklehre, der Vater ist selbstständiger Immobilienmakler. Sie macht 1998 Abitur, studiert Nordamerikanistik, Betriebswirtschaft und Publizistik an der FU Berlin. Seit 2007 Doktorandin am Internationalen Graduiertenzentrum Gießen, Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Gründet 2008 Arbeiterkind.de – ausgezeichnet unter anderem von der Friedrich-Ebert- und der Hans-Böckler-Stiftung, die Körber-Stiftung fördert ein einzelnes Projekt an einer Brennpunktschule in Hamburg.

„Die Angst vor Fehlschlägen ist viel größer als der Glaube an das, was die Kinder können.”