Ulee Lheue ist ein beliebter Ausflugsort in Aceh. Noch heute sind dort Reste der vom Tsunami zerstörten Häuser zu sehen

Von Anett Keller (Text) und Murat Tueremis (Fotos)

Wäre sie nicht bei der Arbeit gewesen, wäre sie wohl nicht mehr am Leben. Nur Asmi ist seit 16 Jahren Krankenschwester im Krankenhaus Dr. Zainael Abidin in Banda Aceh. Auch am Morgen des 26. Dezember 2004 versah sie ihren Dienst dort, wusch Kranke, wechselte Kanülen, verteilte Medikamente. Als der Tsunami über Acehs Küste raste, konnte sie sich in ein höher gelegenes Stockwerk retten. Ihr Mann und ihre beiden Kinder wurden hingegen daheim von der Riesenwelle überrascht. Ihre Leichen wurden nie gefunden.

Nur Asmis Haus wurde von einer ausländischen Nichtregierungsorganisation (NGO) wieder aufgebaut. Doch die 42-jährige Witwe lebt bei der Familie ihres Bruders, sie will nicht zurückgehen. "Zu viele Erinnerungen", sagt Nur Asmi leise.

Ein Morgen in Banda Aceh, der geschäftigen Hauptstadt der Provinz Aceh, die sich durch die Tsunami-Bilder ins globale Gedächtnis eingebrannt hat. Oberflächlich besehen, scheinen die Wunden verheilt. Wären nicht die vielen Neubauten in Küstennähe und die vielen Schilder der internationalen Hilfsorganisationen, man sähe der Stadt die Katastrophe kaum mehr an.

Asmi kommt müde von der Nachtschicht im Krankenhaus. Die kräftige kleine Frau mit dichten schwarzen Augenbrauen über den großen Augen, liebt ihren Beruf. Anderen helfen zu können, erfüllt sie. Das will sie nun, auf andere Art, auch in der Gewerkschaft SPKA, der Gewerkschaft der Krankenschwestern und -pfleger in Aceh, der sie erst vor wenigen Wochen beigetreten ist.

Helfen ohne Mitgliedsbeiträge

"Dass es uns heute gibt, ist sozusagen ein positiver Effekt des Tsunami", sagt der SPKA-Vorsitzende Sulaiman, ein Mittdreißiger mit einem runden, freundlichen Gesicht. Zwar waren freie Gewerkschaften in Indonesien bereits seit 1998 erlaubt, nachdem Diktator Suharto zurückgetreten war und der Weg frei wurde für die Demokratisierung des Landes. Doch in Aceh herrschten weiter die Gesetze des blutigen Bürgerkrieges zwischen indonesischem Militär und den Rebellen der GAM, der Bewegung Freies Aceh, die die ressourcenreiche Provinz unabhängig von Jakarta machen wollten.

Erst nach dem verheerenden Tsunami im Dezember 2004, der in Aceh rund 170 000 Menschenleben forderte, wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Inzwischen herrschen Versammlungsfreiheit und Redefreiheit - "früher hätte ich nicht einfach so mit ausländischen Journalisten öffentlich sprechen können, da hätten sie mich verhaftet", sagt Sulaiman.

Seit der Gründung der SPKA mit finanzieller Unterstützung australischer Gewerkschaften reist Sulaiman durch die Provinz und wirbt für die Gründung von Betriebsgewerkschaften. "Unser Gesundheitswesen wird zunehmend privatisiert. Unternehmen aus Korea, Japan, Malaysia eröffnen hier Krankenhäuser, aber sie zahlen ihren Mitarbeitern noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 1,3 Millionen Rupiah pro Monat" (rund 110 Euro), sagt Sulaiman, der selbst als Mitarbeiter des städtischen Krankenhauses noch relativ gut abgesichert ist. Relativ gut, das bedeutet ein Grundgehalt von 2 Millionen Rupiah (rund 165 Euro) plus Zuschläge für Schicht- und Wochenendarbeit. "Man muss eben sehen, wie man hinkommt", sagt der dreifache Vater.

Eine starke Gewerkschaft

Gründe für eine gemeinsame Interessenvertretung von Arbeitern und Angestellten gibt es also genug. Doch von einer Gewerkschaft im deutschen Sinne ist die SPKA weit entfernt. Kein einziges ihrer rund 1 000 Mitglieder zahlt einen Mitgliedsbeitrag. "Ich würde schon etwas zahlen, wenn es für die gemeinsame Sache wäre", sagt Nur Asmi, aber es klingt ein bisschen so, als würde sie daran zweifeln, dass das Geld auch wirklich zweckmäßig eingesetzt würde. In Indonesien, das im Korruptionsindex von Transparency International einen unrühmlichen 111. Platz von 180 Staaten belegt, ist solcher Zweifel verständlich.

Nur Asmi, 42, Krankenschwester. Sie war im Dienst, als der Tsunami ihre ganze Familie auslöschte

"Unsere Mitglieder erwarten, dass wir sie vertreten", sagt Sulaiman. "Doch wir können ihnen noch nicht mal Rechtsschutz bieten". Zwei Krankenschwestern wurden entlassen, weil sie in ihrem Krankenhaus einen Betriebsrat gründen wollten. Auch Tsunami-Opfern wie Asmi würde die Gewerkschaft gern finanziell unter die Arme greifen, so Sulaiman. Über Arbeitsrechte informieren, Strukturen aufbauen und versuchen, bei Arbeitnehmern wie bei Arbeitgebern das Klischee von der radikalen, ständig streikenden Gewerkschaft zu entkräften - viel mehr können die Gewerkschafter nicht tun.

Wie bei der SPKA zeigt sich das Dilemma vieler Gewerkschaften oder lokaler NGOs, die nach dem Tsunami mit ausländischen Hilfen aufgebaut wurden. Sind die Helfer wieder abgezogen, enden meist auch die Programme. Und so hofft auch Sulaiman auf neue Gelder aus dem Ausland, anstatt ein Beitragsmodell aufzubauen und damit auch eine langfristig funktionierende Gewerkschaft. "Viele Gewerkschaften zögern, Beiträge zu erheben oder Beiträge zu erhöhen, weil die Mitglieder sofort fragen, was sie dafür bekommen", sagt Muhammad Arnif, Direktor des gewerkschaftlichen Beratungszentrums TUCC in Banda Aceh. Das Zentrum wurde 2005 - unter anderem mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbunds - aufgebaut und wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung fachlich und organisatorisch unterstützt. Dass es eine klare Verbindung zwischen Mitgliedsbeiträgen und Verhandlungsmacht zu geben scheint, zeigen die Statistiken des TUCC. Jene Gewerkschaften, die Mitgliedsbeiträge erheben, haben in der Regel auch einen Tarifvertrag.

Einen Eindruck von einer starken Gewerkschaft bekommt, wer etwa 20 Minuten aus Banda Aceh heraus fährt. Zwischen Hügeln und Meer führt die Straße vorbei an den zuweilen uniform anmutenden, nach dem Tsunami mit Hilfe internationaler Gelder wieder aufgebauten Siedlungen entlang der nordacehnesischen Küste. Staub umgibt die Zementfabrik PT Semen Andalas Indonesia (PT SAI) in Lhoknga, die zum französischen Konzern Lafarge gehört. Sie erlangte nach dem Tsunami traurige Berühmtheit, da sie sich zwischen Strand und einer Hügelkette befindet, wo der Kalkstein für die Betonproduktion abgebaut wird. Hier traf die über 20 Meter hohe Welle mit ungebremster Kraft auf die Küste. Über 200 Mitarbeiter der Fabrik starben.

Sudirman Sawang, 48, hinten, arbeitet seit 1983 in der Zementfabrik PT SAI, seit 2004 ist er Vorsitzender der Betriebsgewerkschaft. Fadli Amri, 42, vorn, verlor Frau und 2 Kinder beim Tsunami

Sudirman Sawang, ein kleiner, untersetzter Mann, arbeitet seit 1983 hier, seit es die Fabrik gibt. Seit 2004 ist er Vorsitzender der Betriebsgewerkschaft. Bereits am zweiten Tag nach dem Tsunami hatten er und seine Kollegen einen Hilfsposten auf die Beine gestellt, zunächst Nahrungsmittel verteilt, medizinische Hilfe für Verletzte organisiert. Später versuchten sie, das Management zu überzeugen, die komplett zerstörte Fabrik wieder aufzubauen.

Lafarge habe den Standort zunächst aufgeben wollen, so Sudirman. "Als die Chefs aus Frankreich wenige Tage nach dem Tsunami hier ankamen, lagen auf dem Fabrikgelände überall noch Leichen herum", erinnert er sich. 2006 wurde die Produktion wieder aufgenommen. "Es hat keinen Lohnausfall gegeben", sagt Sudirman. Mit sichtlichem Stolz zeigt er den von Gewerkschaft und Management ausgehandelten Tarifvertrag, ein kleines weiß-grünes Buch, in dem Arbeitszeiten, Überstundenregelungen, Urlaubs- und Sozialversicherungsansprüche klar geregelt sind. "Wir sind zum Glück viele", so der Gewerkschaftsführer und präsentiert eine Liste, auf der Namen und Beiträge der 228 Gewerkschaftsmitglieder stehen. "Uns kann das Management nicht vorführen."

Bedu Saini, 46, Fotoreporter der Tageszeitung Serambi. Er verlor zwei Kinder durch den Tsunami

Wenn sich die Arbeiter der Zementfabrik am Spätnachmittag auf den Heimweg machen, beginnt in der Redaktion von Serambi, Acehs größter Tageszeitung, der Endspurt für die Ausgabe des nächsten Tages. Der Fotograf Bedu Zaini sitzt am Computer im neuen Großraumbüro der Zeitung, um die Bilder des Tages zu bearbeiten. Die Aufnahmen des 46-Jährigen, der beim Tsunami seine Mutter und zwei seiner Kinder verlor, gingen damals um die Welt. Im Aufbau-Boom in Aceh wurden auch zahlreiche Medien neu gegründet. Doch Serambi ist bis heute das einzige Medienunternehmen, das eine Betriebsgewerkschaft hat und die Mitarbeiter finanziell und sozial absichert. "Verglichen mit anderen geht es uns sehr gut", sagt Bedu, der etwa 4 Millionen Rupiah (rund 330 Euro) im Monat verdient.

Bei vielen Journalisten sieht die Lage anders aus, sie verdienen oft nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. 2008 wurde beispielsweise die Tageszeitung Aceh Independen gegründet, ein Jahr später wieder geschlossen. Auf den Lohn für die letzten Arbeitsmonate warten die rund 100 ehemaligen Mitarbeiter noch heute vergeblich. "Wir hatten zwar Arbeitsverträge unterschrieben, aber keine Kopie davon bekommen", sagt ein ehemaliger Reporter der Zeitung.

Frauen in Arbeit

Zunehmend wird im Medienbereich zudem auf freiberufliche Mitarbeiter gesetzt, die per Auftrag bezahlt werden. Auch die 34-jährige Yayan Zamzani arbeitet frei als Videojournalistin für eine der großen nationalen Fernsehstationen. Pro Beitrag erhält sie etwa 250 000 Rupiah (rund 20 Euro), vorausgesetzt, der Beitrag wird gesendet. Dennoch kann sie sich keinen anderen Beruf für sich vorstellen, setzte sich sogar gegen ihre Eltern durch, um ihn auszuüben. In Banda Aceh sind weibliche Journalisten eine Minderheit, "man kann sie an zwei Händen abzählen", sagt Yayan.

Eine neue uniforme Reihenhaussiedlung in Alue Naga in der Provinz Aceh

Für Acehs Frauen könnte das Geldverdienen künftig noch schwerer werden. In Aceh herrscht seit 2001 die islamische Scharia. Einst wurde sie der Provinz von der Zentralregierung verordnet, als Mittel, um die Unabhängigkeitsbestrebungen im Zaum zu halten. Nach dem Friedensvertrag von 2005 bekam Aceh ein Autonomiegesetz, welches an der Scharia festhält. Aceh ist traditionell stark islamisch geprägt, viele Bewohner erhoffen sich von der Scharia eine gerechtere und weniger korrupte Gesellschaft.

Die Tsunami-Katastrophe nahmen viele Acehnesen als "Prüfung Gottes" wahr, sie führte zu einer noch stärkeren Hinwendung zur Religion. Dann kamen mit den zahlreichen westlichen Helfern Vertreter eines Lebensstils ins Land, der viele Acehnesen verunsicherte - was dann teils von konservativen islamischen Kräften instrumentalisiert wurde.

Grenzen des Arbeitsgesetzes

Die Frage der Gleichberechtigung von Frauen im Arbeitsprozess berührt weit mehr als die Frage, ob sie ein Kopftuch tragen müssen. Sie steckt in Paragrafen, wie in dem Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz, an dem auch die Gewerkschaften in Aceh gerade mitarbeiten. Nächstes Jahr soll er im Parlament eingebracht werden. Viele gute Gedanken finden sich darin, zum Beispiel, dass Unternehmen geschützte Räume für stillende Mütter einrichten sollen. Im Entwurf in der jetzigen Form steht aber auch geschrieben, dass Frauen nur mit Genehmigung ihres Ehemannes arbeiten dürfen. Dass sie islamischen Kleidervorschriften zu folgen haben. Und dass sie nach 22 Uhr nicht mehr arbeiten sollen.

Wieder aufgebaute Moschee und Fischerboote am Fischmarkt der Hauptstadt Banda Aceh

Für eine Krankenschwester wie Asmi gäbe es dann keine Nachtschichtzuschläge mehr. Und für eine Journalistin wie Yayan würden sich die Recherchezeiten nach dem Sonnenverlauf richten. "Ein solches Gesetz würde Frauen noch mehr in ihre traditionelle Rolle zurück drängen", kritisiert Ephie Calan von der acehnesischen Frauenorganisation Flower Aceh. Aceh dürfe nicht hinter die nationale Gesetzgebung oder internationale Konventionen zurückfallen.

Doch selbst jene, die dem Gesetz ein arbeitnehmerfreundliches Gesicht geben sollen, scheinen sich der massiven Einschnitte in Frauenrechte nicht bewusst zu sein. "Unsere Aufgabe ist es, das nationale Gesetz an die acehnesische Kultur anzupassen, sagt Muhammad Arnif, Direktor des gewerkschaftlichen Beratungszentrums TUCC, das die Arbeit von 23 Gewerkschaften am Gesetzentwurf koordiniert. "Frauen sollten nachts nicht arbeiten, das dient doch ihrem eigenen Schutz", sagt Arnif. Auch dass Frauen nur mit der Einwilligung ihres Ehemannes auf Jobsuche gehen dürfen, findet er richtig. "Bei uns ist es nun mal so, dass die Frauen sich um den Haushalt und die Kinder kümmern."

Neubeginn in Haiti

Der Karibikinselstaat Haiti erlebte mit dem Erdbeben am 12. Januar 2010 eine ähnliche humanitäre Katastrophe wie die Insel Banda Aceh mit dem Tsunami. Die Internationale der öffentlichen Dienste hat seit Januar einen Spendenaufruf für Haiti laufen. Von den 6 500 Mitgliedern der Partnergewerkschaft für den öffentlichen und privaten Sektor überlebten 300 Mitglieder das Beben nicht. Die Spenden gehen an ihre Familien und in den Wiederaufbau der Gewerkschaft. www.world-psi.org/haiti