Von Gerhard Fitzthum

Die Pfingstegg ist ein behaglicher Ort. Von der Terrasse des Berggasthauses schaut man in ein herrlich grünes Hochtal, das sich bis zu einer fernen Gratlinie hinaufzieht. Dramatische Formen sind nirgendwo zu sehen. Selbst die Gipfelpyramide des Faulhorns wirkt wie der Teil einer dekorativen Fototapete. Es ist eine friedliche Bilderbuchschweiz, die sich dem Betrachter hier bietet.

Dreht man sich zur Linken, sieht die Welt etwas anders aus: Ein garstiger Felsenkoloss versperrt hier den Blick in den Himmel. Mehr als 3 000 Meter hoch, lässt das "Hörnli" an eine gigantische Kathedrale denken, die Wind und Wetter in Jahrmillionen in ein düsteres Fossil verwandelt haben. Dahinter leuchten die Firnhänge des Eiger-Gipfels hervor - Faszination und Schrecken liegen hier ganz dicht beieinander.

Bedrohlich wirkende Szenarien gibt es auch eine gute Wanderstunde von der Pfingstegg entfernt. Auf gerade mal 1 700 Meter Meereshöhe ist hier im Laufe der letzten drei Jahre eine 200 Meter hohe und ebenso breite Felswand vollständig zerbröselt. An einem Sommertag des Jahres 2006 brachen gar 400 000 Kubikmeter auf einmal ab. Der Boden zitterte und der aufwirbelnde Staub verdunkelte den Himmel. Er wälzte sich bis nach Grindelwald hinunter, wo mancher Feriengast die Nacht auf gepackten Koffern verbracht haben soll.

Dass das Tal der Weissen Lütschine keine Gegend für gemütliche Spaziergänge ist, wird einem auf den ersten Metern klar. Gerade einmal einen Meter breit, führt der Bergweg durch steile Grashänge, an deren unterem Ende der Abgrund gähnt. Irgendwann geht es unter einer Felswand hindurch, von der Wasser tropft, dann gießt sich ein richtiger Wasserfall auf den Weg. Auch jenseits der Gletscherschlucht, stürzen Kaskaden zu Tal, die Sonne verschwindet hinter dem Eiger-Massiv. Es ist nicht die Dämmerung, die den Adrenalinspiegel steigen lässt. Schlimmer ist die Ungewissheit, wo genau der Berg seine Stabilität verloren hat. Könnte nicht jeder der unzähligen Felsentürme sogleich in sich zusammenfallen? Muss man nicht lebensmüde sein, um eine Nacht in der Bäregg-Hütte zu verbringen?

Wer die Abbruchstelle entdeckt, ist freilich erstmal beruhigt. Sie liegt am Gegenhang etwa auf gleicher Höhe. Was immer hier abbricht, es kann einem nicht auf den Kopf fallen. Die Bäregg-Terrasse, auf der es im Bergsturzsommer 2006 kaum noch Stehplätze gab, ist heute menschenleer. Dabei gibt es in Mitteleuropa keinen besseren Ort, um die Auswirkungen des Klimawandels zu studieren. Nach dem rapiden Rückzug des Gletschers, der vor 100 Jahren noch die halbe Schlucht ausfüllte, fehlte irgendwann der nötige Gegendruck. Zudem fand das Schmelzwasser den Weg in Risse und Spalten. Nicht erst der Frost, sondern allein der Wasserdruck begann, die kompakte Gesteinsmasse auseinander zu sprengen. Nehmen die Temperaturen im alpinen Hochgebirge weiter so zu wie in den letzten Jahren, werden die nächsten Felsstürze nicht lange auf sich warten lassen.

Ein Naturschauspiel ersten Ranges

Noch spektakulärer wird die Landschaft, wenn man weiter in Richtung Schreckhornhütte aufsteigt. Nach einer Stunde auf schmalem Bergsteig mit freilaufenden Schafen weitet dieser sich zu einem perfekten Logenplatz - einer Gras bewachsenen Bergschulter, von der aus man Eiger, Mönch, Schreckhorn und Fiescher Horn zugleich sieht. Das ewige Eis des Unteren Grindelwaldgletschers liegt nun gegenüber, zum Greifen nah. Hier spielt sich das eigentliche Klima-Drama ab: Im steilsten Teil des Gletschermeeres brechen im Halbstundentakt mächtige Eispakete ab und stürzen mit großem Getöse auf den Gletscherrücken - ein Naturschauspiel ersten Ranges, das um so eindrücklicher wirkt, wenn man hier oben ganz alleine ist.

Womöglich sind es die Warnschilder des Schweizer Alpenclubs, die die Bergwanderer von diesem einmaligen Aussichtspunkt fernhalten. Gefährlich ist allerdings nur die Durchquerung des Tobels, auf die man während und nach starken Regenfällen tatsächlich verzichten sollte. In dieser tief ausgespülten Rinne häuften sich in den letzten Jahren Murengänge und Steinschläge. Ursache ist das Auftauen des Permafrosts - auch dies eine Folge der Klimaerwärmung.

Info

Grindelwald-Tourismus, Tel. 0041 / 33 / 854 12 12, Fax -854 12 10,E-Mail touristcenter@grindelwald.ch

In Zusammenarbeit mit der Universität Bern wurde der Jungfrau-Klimaguide entwickelt - ein Outdoor-Audioguide, der den Gast auf Lehrpfaden führt www.jungfrau-klimaguide.ch