GERD HERZBERG ist im ver.di-Bundesvorstand u. a. zuständig für Rechtspolitik

ver.di PUBLIK | Das Bundesarbeitsgericht hat das Prinzip "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" gekippt - mit welchen Folgen?

GERD HERZBERG | Die direkte Folge ist, dass mehrere Tarifverträge über denselben Regelungsgegenstand parallel in einem Betrieb gelten können. Wir fürchten dabei eine Entsolidarisierung innerhalb der Belegschaften. Da parallel geltende Tarifverträge meist unterschiedliche Laufzeiten haben werden, sind auch die Zeiten der Friedenspflicht unterschiedlich. Es können immer nur Teile der Belegschaft streiken, die anderen müssen stillhalten. Die Belegschaft zersplittert, die Verbände stehen im permanenten Tarifwettbewerb. Das gefährdet auch das Streikrecht insgesamt, weil durch ständige Einzelarbeitskämpfe die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für unsere Anliegen schwinden wird. Zudem wird es sicherlich Gerichte geben, die z. B. in der Daseinsvorsorge einen Streik für unverhältnismäßig halten, wenn er nicht die erste, sondern vielleicht die vierte Arbeitsniederlegung in diesem Betrieb darstellt. Letztlich fordern die Entscheidungen des BAG gerade zur Gründung von Spartengewerkschaften heraus.

ver.di PUBLIK | Der DGB hat in seltener Einmütigkeit mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA, eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit vorgeschlagen. Wie steht ver.di dazu?

HERZBERG | ver.di unterstützt den Vorschlag. Dabei soll nicht etwa die alte Rechtsprechung wiederhergestellt werden, sondern Tarif- einheit soll über das demokratische Prinzip der Mehrheit - Stichwort: Repräsentativität - geschaffen werden und nicht über Spezialität wie bislang. Die Spezialität war es nämlich, die eine Durchsetzung der Tarife der Sparten- und Unterbietungsgewerkschaften erst ermöglichte. Durch die Anwendung des Mehrheitsprinzips werden Spartengewerkschaften nicht verboten, aber im Falle der Tarifkollision und überschneidender Geltungsbereiche - und nur dann - haben sie sich aber einem demokratischen Prinzip zu unterwerfen, das auch sonst gilt und wie es in anderen Gesetzen verankert ist.

ver.di PUBLIK | Kritiker der Initiative von BDA und DGB befürchten eine Einschränkung des Streikrechts. Ein massiver Vorwurf - zu Recht?

HERZBERG | Es mag verwundern: Der Vorschlag dient aber der Sicherung des Streikrechts. In der Tat soll nach dem Vorschlag der Mehrheitstarifvertrag Friedenspflicht auch für die Minderheitsgewerkschaft auslösen, aber nur hinsichtlich überschneidender Gegenstände und nur solange der Mehrheitstarifvertrag läuft. Es können daher grundsätzlich mehrere Tarifverträge in einem Betrieb gelten und auch erstreikt werden. Entscheidend ist aber, dass unser Streikrecht nicht durch zahlreiche Aktionen in wichtigen Tariffeldern entwertet wird, denn zu viele Streiks in einem Betrieb lassen diese beliebig und unangemessen erscheinen. Die Öffentlichkeit und die Gerichte werden das nicht hinnehmen, was insbesondere für den Bereich der Daseinsvorsge gilt. Der Vorschlag von DGB und BDA zwingt in überschneidenden Tarifthemen zur Kooperation mit anderen Verbänden bzw. zu einem Gleichtakt von Streikaktionen. Er sorgt auch dafür, dass das Streikrecht nicht jegliche Akzeptanz verliert.