Immer länger im Laden - doch zusätzliche Mehrarbeit wird bei Aldi Nord oftmals nicht bezahlt

Von Andreas Hamann

Vordergründig geht der Streit um knapp 1000 Euro, doch mit dem aktuellsten Urteil zum Discount-Giganten Aldi kommt dessen fragwürdiger Umgang mit der Arbeitszeit der Beschäftigten auf den Prüfstand. Drei Richter am Wuppertaler Arbeitsgericht entschieden Mitte Oktober gegen Aldi Nord. Dort wird zwar übertariflich gezahlt, aber eine sehr laxe Erfassung der geleisteten Stunden macht diesen Gehaltsvorteil oft wieder zunichte.

"Zusätzliche Arbeit vor und nach Ladenöffnung wird nach Aussagen von Betroffenen systematisch verlangt, aber vielfach nicht erfasst und nicht bezahlt", heißt es in einem ver.di-Dossier zum Aldi-Konzern. Um welche Summen es gehen könnte, lässt die Beispielrechnung eines ehemaligen Betriebsrats erahnen: "Nur eine unbezahlte Stunde Mehrarbeit pro Tag entspricht fast eineinhalb Monatsgehältern im Jahr."

Raffiniert gerechnet

Auch die bezahlte Mehrarbeit spielt eine Schlüsselrolle im System Aldi, hausintern spricht man von "Bis-zu-Zeiten". Und das geht so: Von den Vollzeitkräften verlangt Aldi zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen 40,5 Stunden pro Woche. Nicht als Ausnahme, sondern regelmäßig. Sie kommen dadurch auf drei Stunden mehr, als der Tarifvertrag vorsieht. Teilzeitkräfte leisten anteilig Mehrarbeit, Filialleiter müssen 45 Stunden ran. Aldi zahlt, kein Zweifel: Als Ausgleich wird eine Pauschale berechnet, die beim Ladenpersonal 50 Prozent der am Umsatz orientierten Verkaufsprämie beträgt. Die andere Hälfte gilt als freiwillige Leistungsprämie. Ergibt sich unterm Strich eine zu geringe Summe, gleicht Aldi dies aus - bis hin zum Tarifniveau. So weit, so gut?

Ständig mehr Stunden ohne "konkreten Einzelanlass" anzuweisen, das ist nicht nur aus Sicht von ver.di tarifwidrig. Obendrein verweigert Aldi Nord, dass die Arbeitszeit minutengenau erfasst wird. Das ist das Kernproblem der Beschäftigten. Denn außer den "Bis-zu-Zeiten" wird oft noch zusätzliche Mehrarbeit geleistet, die unter den Tisch fällt.

"Die Zeit von 6.30 Uhr bis 7.55 Uhr Uhr wird nicht erfasst bzw. auch nicht in die so genannte Zeitausgleichsliste eingetragen", heißt es in einer eidesstattlichen Versicherung, die der Redaktion vorliegt. Darin schildert ein Insider Beispiele von Stundenklau. "Die machen einen Reibach ohne Ende", sagt Sabine Hilgenberg vom ver.di-Fachbereich Handel in NRW, "und zwar auf Kosten der Beschäftigten." Das Prinzip "Zeit ist Geld" hat bei Aldi eine besondere Bedeutung.

Im Klartext

Bei den leidigen "Bis-zu-Zeiten" hat die 3. Kammer des Wuppertaler Arbeitsgerichts jetzt Klartext gesprochen. Der Discounter ist verurteilt worden, einen Betrag von 968,12 Euro an einen Beschäftigten aus Radevormwald zu zahlen, der darauf geklagt hatte. Um exakt diesen Betrag war sein Gehalt gekürzt worden. Die Begründung des Arbeitgebers: Der Kollege habe sich geweigert, Mehrarbeit zu leisten, die über dringende Vor- und Abschlussarbeiten wie Aufräumen und Kassenschluss hinausgeht. Doch die Richter bescheinigten Aldi, im Unrecht zu sein: Die Betriebsvereinbarung zur Mehrarbeit verstößt gegen das Betriebsverfassungsgesetz, so die Urteilsbegründung. Die dauerhafte Verlängerung der Arbeitszeit bei Aldi über eine "Pauschalermächtigung" sei tarifwidrig. Da die Mehrarbeit nicht legal abgefordert worden sei, dürften auch keine Zulagen gekürzt werden.

Das Wuppertaler Urteil hat einige panische Reaktionen und Krisensitzungen in der Führungsetage von Aldi Nord verursacht. Das überrascht nicht, denn seit 1991 ist die Betriebsvereinbarung zur Mehrarbeit im Verkauf so oder ähnlich in allen 35 Regionalgesellschaften durchgesetzt worden. Erlangt das Urteil Rechtskraft, muss Aldi seine undurchsichtige Arbeitszeitpolitik korrigieren. Bis Anfang Dezember konnte das Unternehmen Revision einlegen.

Jetzt lässt Aldi Ängste schüren. Wenn der klagende Mitarbeiter Recht bekäme, würde das die Kostenplanung massiv beeinflussen, schrieb die Kanzlei des Aldi-Beraters Emil Huber an die ver.di-Handelsexpertin Sabine Hilgenberg. Alle Betriebsbereiche müssten auf den Prüfstand gestellt werden. Und: "Dabei überrascht es nicht, dass der Fuhrpark als nicht zwingend betriebsnotwendig angesehen wird..."

Drohungen dieser Art sind nicht neu. Schon 1991, als es zum ersten Mal um die Arbeitszeitregelung ging, verfolgte Aldi die Strategie, mit der Angst um die Zulagen "Innendruck" durch die Filialleiter "auf den Betriebsrat" zu erzeugen. So zu lesen in einem internen Dokument mit dem Kürzel "Hu" für Huber. Mit Fairness, wie im Unternehmensleitbild versprochen, hat das seit vielen Jahren nichts zu tun.

Proteste bei Aldi in Griechenland

Nach zwei Jahren zieht sich Aldi Süd wieder aus Griechenland zurück. Dort gibt es 38 Filialen, geplant waren rund 500. Ein neu gewähltes Beschäftigtenkomitee bei Aldi in Griechenland hat die Offenlegung der Geschäftszahlen gefordert. Es will prüfen, ob die ökonomische Lage tatsächlich so schlecht ist, wie vom Management behauptet. Ein niedriges Abfindungsangebot sehen die rund 700 Beschäftigten als Provokation an. Es gab bereits öffentliche Proteste. Ulrich Dalibor, Leiter der Bundesfachgruppe Einzelhandel, hat im Namen von ver.di seine Solidarität mit den Beschäftigten erklärt.