"Uns fehlen die Fachkräfte", heißt es landauf, landab in vielen Branchen. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit einer Lücke von sechs bis sieben Millionen Fachkräften bis 2025. Allerdings sind in dieser Zahl weder Zuwanderung, längere Lebensarbeitszeit noch eine höhere Erwerbsquote eingerechnet. Also viel heiße Luft? Eindeutig. Ein Blick auf verschiedene Branchen zeigt, dass die Unternehmen viel selbst tun könnten, um ihre Jobs attraktiver und die Belegschaft zukunftsfähiger zu machen

Gegen veraltete Qualifikation hilft Weiterbildung und nur bedingt ein neuer Mitarbeiter. Im Erziehungsbereich würde es schon helfen, alt werden zu können im Beruf

Informationstechnologie

Projektarbeit ist in der IT-Branche weit verbreitet. Bestimmte Computer-Software oder auch -Hardware wird an die Bedürfnisse von (Groß)Kunden angepasst. Eine arbeitsintensive Zeit, in der die Arbeitgeber von ihren Beschäftigten viel Flexibilität und großen Einsatz erwarten. Eine Zeit, in der Familie, Freunde und Freizeit der Beschäftigten zurückstecken müssen, und in der auch Zeit für Weiterbildung fehlt. Doch in der Computerbranche ändern sich die Anforderungen schnell. Ist ein Programm heute noch bei vielen Kunden gefragt, kann es in wenigen Jahren schon wieder als völlig veraltet gelten. Und die Beschäftigten, die sich gerade noch in ihren Projekten ausgepowert haben, stellen fest, dass ihre Qualifikation veraltet ist, dass jüngere Uni-Absolventen mit neueren Qualifikationen ihre Stellen eingenommen haben.

"31 000 ITler suchen einen Job"

Von einem Fachkräftemangel mag Michael Jäkel, bei ver.di für den Bereich Informationstechnologie/Datenverarbeitung zuständig, daher nicht sprechen: "Es gibt allenfalls ein Missverhältnis zwischen vorhandenen und nachgefragten Qualifikationen." Die Arbeitgeber der Branche sehen eine Lücke von 35.000 Fachkräften. Jäkel verweist dagegen auf 31.000 arbeitslose ITler, die Zahl ist allein im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Die Gehälter jedoch sind trotz Aufschwungs in 2010 nur um knappe 1,5 Prozent angestiegen.

"Die Probleme im IT-Bereich sind hausgemacht", sagt Michael Jäkel. Die Unternehmen sollten selbst aktiv werden. Die Ausbildungsquote ist mit 2,5 Prozent niedrig, mehr Auszubildende müssten übernommen werden, die Personalpolitik sollte sich auch in der Weiterbildung am langfristigen Bedarf ausrichten. Bei einer Abbrecherquote von 40 Prozent an den Unis und 20 Prozent an Fachhochschulen müsse auch darüber nachgedacht werden, wie die Studienbedingungen zu verbessern sind. Die Arbeitgeber wollen hingegen mehr ausländische Absolven-t/innen anwerben. Doch für die, so Jäkel, sei Deutschland nicht unbedingt die erste Wahl. Hinzu komme, dass die Ausbildungssprache Englisch sei. Stattdessen könnte ein Bleiberecht für ausländische Absolvent/innen helfen. Elf Prozent der Absolvent/innen insgesamt im naturwissenschaftlich-technischen Bereich kämen aus dem Ausland. Doch zwei Drittel von ihnen müssen nach ihrem Abschluss Deutschland verlassen, weil sie kein Bleiberecht haben.

Ingenieure und Techniker/innen

In den technischen Bereichen ist die Situation ähnlich wie bei den ITlern. "Ingenieure und Techniker sind heiß begehrt, aber auch arbeitslos", sagt Barbara Zahn vom ver.di-Landesbezirk Bayern. Häufig würden ältere Kolleg/innen entlassen. Neueinstellungen gibt es nur zu schlechteren Bedingungen. Zeitarbeit nehme in der Branche einen immer breiteren Raum ein, für Zahn ist das nichts weiter als "Lohndumping". "Die Arbeitgeber müssen mehr in Bildung, in Qualifikation investieren", sagt Zahn. Die Ansprüche auf Weiterbildung müssten auch in Tarifverträgen festgeschrieben werden.

Erzieher/innen

420.000 pädagogische Fachkräfte haben 2010 in Kindertagesstätten und Kindergärten gearbeitet. Dass der Bedarf steigen wird, ist absehbar. Die Bundesregierung hat versprochen, bis 2013 den Betreuungsanspruch für Unter-Drei-Jährige auszubauen. Allein für die dafür nötigen 30.000 neuen Stellen muss man bei der derzeitigen Teilzeitquote 54.000 neue Fachkräfte finden. Politiker/innen bezeichnen diesen Mangel eher als "kurzfristig".

So optimistisch ist Harald Giesecke, bei ver.di für den Bereich Sozial-, Kinder- und Jugendhilfearbeit zuständig, nicht. Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe hat ausgerechnet, dass bis 2025 in den Kitas 268.000 Fachkräfte gebraucht werden, überwiegend Erzieher/innen, aber auch Kinderpfleger/innen. In die Zahlen sind Verrentungen, vorzeitiger Berufsausstieg, Ausbau der Ganztagsbetreuung, Hort und Schulkinderbetreuung sowie Einsparungen aufgrund sinkender Kinderzahlen eingerechnet. Hinzu kommen, so Giesecke, weitere 80.000 Erzieher/innen, wenn Deutschland, wie zum Beispiel skandinavische Länder, die Empfehlungen der Europäischen Kommission umsetzt, um die Kinder besser betreuen zu können. Aktuell werden jährlich 21.000 Erzieher/innen in Fachschulen ausgebildet, drei Viertel von ihnen gehen in das Arbeitsfeld Kita. Zu wenig, um die berechnete Lücke zu füllen.

"Den Wiedereinstieg in den Beruf erleichtern"

"In den Ballungsräumen fehlen schon heute hunderte von Erzieher/innen", sagt Giesecke. Als Kurzfriststrategie sollte seiner Meinung nach der Wiedereinstieg in den Beruf erleichtert werden. 97 Prozent der Beschäftigten sind weiblich, viele scheiden aus dem Beruf aus, wenn sie selbst Kinder bekommen. Bei entsprechenden Arbeitsbedingungen könnten viele von ihnen später ihren Beruf wieder aufnehmen.

Auch eine berufsbegleitende Ausbildung könnte helfen, diesen kurzfristigen Mangel zu mildern. "Langfristig müssen wir es schaffen, dass man in diesem Beruf alt werden kann", sagt Giesecke. Muskel-Skelett-Krankheiten und Burnout zählen zu den häufigsten Ursachen, warum Erzieher/innen häufig vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden. Bessere Arbeitsbedingungen mit besserer Bezahlung, geregelten Pausen, eine bessere Personalausstattung und passgenaue, ausreichend bezahlte Teilzeitmodelle könnten diese Probleme lindern und den Beruf attraktiver machen.

Sozialarbeit

Auf einen Fachkräftemangel scheint bei den Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagog/innen zurzeit nichts hinzudeuten. Immer mehr werden eingestellt. Waren in Westdeutschland 1977 noch gut 20.000 von ihnen tätig, waren es 30 Jahre später im gleichen Gebiet gut 100.000. Hinzu kommen weitere knapp 20.000 in Ostdeutschland. Die Zahl der Studierenden ist unverändert hoch. Fachkräfte fehlen bislang allenfalls in einzelnen Regionen und Arbeitsfeldern.

"Die Zahl der Studierenden ist unverändert hoch"

Dennoch blickt Harald Giesecke, in dessen Bereich bei ver.di auch die Sozialarbeiter/innen fallen, nicht ohne Zukunftssorgen auf diese Branche. 71 Prozent der heute in der Sozialarbeit Beschäftigten werden bis zum Jahr 2025 verrentet sein. "Dieser Mangel wird allein über Maßnahmen der Personalentwicklung seitens der Träger, insbesondere der Kommunen, nicht mehr zu regeln sein", sagt Giesecke. Außerdem rechnet der Gewerkschafter mit wachsendem Bedarf durch fachliche Verschiebungen. So geht er davon aus, dass zum Beispiel die aktuelle Änderung des Gesetzes zur Amtsvormundschaft dazu führen wird, dass mehr Sozialpädagog/innen in diesem Bereich gebraucht werden. Auch der Bedarf an Leistungen für die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Migrationshintergrund oder Bildungsschwachen wird zunehmen.

Im Gegensatz zu dem steigenden Bedarf steht aber, dass die Rahmenbedingungen dieses Berufsfeld immer unattraktiver machen. Der Anteil an Teilzeitbeschäftigten ist, so Giesecke, in den vergangenen zehn Jahren von 15 auf 30 Prozent gestiegen. Die Bezahlung ist schlechter geworden, viele Stellen werden über Projekte finanziert und daher nur noch befristet vergeben. Das heißt: unsichere Stellen, mit denen man annähernd an der Armutsgrenze lebt. Im zunehmenden Wettbewerb um zukünftig immer weniger Nachwuchskräfte lassen sich so keine Punkte machen.

Pflege

Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate sinkt. Das wird dazu führen, dass der Anteil betagter Menschen in Deutschland in den kommenden Jahren zunehmen wird - und damit sehr wahrscheinlich auch der Anteil pflegebedürftiger Menschen. Aktuell sind rund 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass es bis zum Jahr 2030 sogar drei bis 3,4 Millionen sein werden. Da sich die Lebensgewohnheiten und soziale Bindungen verändern, wird der Bedarf an professionellen Dienstleistungen steigen.

Zu sagen, wie viele Kranken- und Altenpfleger/innen in Zukunft fehlen werden, ist schwer. 221.000 ausgebildete Fachkräfte werden 2025 fehlen, so das Statistische Bundesamt. Das Amt geht dabei aber davon aus, dass die Erwerbstätigkeit von Pflegenden auch in Westdeutschland auf das Niveau des Ostens steigt. Dort ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser, die Frauen arbeiten mehr Stunden pro Woche als die Kolleg/innen im Westen. Hinzu kommt, dass im Moment rund die Hälfte der Pflegekräfte nur angelernt ist. "Nur wer professionell auf dem Laufenden ist, schafft die Anforderungen", begründet Gabriele Feld-Fritz, bei ver.di für die Gesundheitspolitik zuständig, die ver.di-Forderung nach mehr qualifizierter Aus- und Weiterbildung der derzeitig beschäftigten angelernten Kräfte.

"Der Bedarf ist schwer einzuschätzen"

Gleichzeitig müssen sich die Rahmenbedingungen ändern: bessere Bezahlung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr Personal, damit der Beruf nicht zu sehr die eigene Gesundheit angreift. Auch deswegen ist der Bedarf schwer einzuschätzen. Schon heute sind Stationen mit vielen Patient/innen oder Pflegebedürftigen teilweise mit viel zu wenig Personal besetzt. Eine Situation, die für beide Seiten belastend und untragbar ist. Außerdem macht sich ver.di für eine kostenfreie Altenpflegeausbildung stark. Die ist nicht in allen Bundesländern gewährleistet. "Es kann nicht angehen, dass die Auszubildenden dort, wo ein Mangel ist, noch Geld mitbringen", unterstreicht Gabriele Feld-Fritz die Forderung. Auch müsste die dreijährige Umschulung zur examinierten Altenpflegerin weiter finanziert werden.

"31 000 ITler suchen einen Job"

"Den Wiedereinstieg in den Beruf erleichtern"

"Die Zahl der Studierenden ist unverändert hoch"

"Der Bedarf ist schwer einzuschätzen"