Der brutale Angriff auf Marios Lolos in Athen. Der engagierte Fotoreporter wurde schwer verletzt

Von Heike Schrader

Er wolle weder seinen Kindern Schulden hinterlassen, noch gezwungen sein, "im Müll nach Essen zu suchen", heißt es im Abschiedsbrief von Dimitris Christoulas. Der 77-jährige Apotheker in Rente hat sich am Nachmittag des 4. April auf dem Syntagma-Platz, genau vor dem griechischen Parlament, in Athen erschossen. Die Regierung habe ihm ein würdiges Leben aufgrund seiner Rente, für die er 35 Jahre ohne jede staatliche Unterstützung Beiträge gezahlt habe, durch ihre Kürzungspolitik unmöglich gemacht. So schreibt der bis zu seinem Tod engagierte linke Aktivist. Seinen Freitod verband er mit dem Aufruf zum Widerstand. "Ich glaube, dass die Jugendlichen ohne Zukunft eines Tages zu den Waffen greifen und die Verräter an der Nation auf dem Syntagma-Platz an den Füßen aufhängen werden - wie es die Italiener 1945 mit Mussolini taten."

Christoulas ist der erste, der seinen Selbstmord so öffentlich gemacht hat, aber beileibe nicht der erste Grieche, der wegen der drastischen Kürzungspolitik in den Freitod ging. Nach offiziellen Angaben nahmen sich 2011 etwa 540 Menschen das Leben, 45 Prozent mehr als 2010, dem ersten Jahr der Kürzungen. Mehr als 600 Menschen haben außerdem im vergangenen Jahr versucht, sich das Leben zu nehmen. Die meisten von ihnen gaben als Grund ihre von der Krisenpolitik verursachten finanziellen Probleme an.

Die Mehrheit verarmt

Weder den "stillen" Selbstmördern noch dem ein Fanal setzenden Dimitris Christoulas ist es jedoch gelungen, einen Aufstand auszulösen, wie er im Dezember 2010 in Tunesien nach der Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bou'azizi ausbrach. Zumindest die Polizei Griechenlands scheint mit einem solchen Aufstand allerdings zu rechnen. Gleich mehrere Hundertschaften schirmten in den Tagen nach dem Selbstmord das Parlament ab und gingen mehrmals bei der geringsten Gelegenheit brutal gegen die mehreren hundert bis zu einigen tausend Demonstranten vor, die sich aus Protest gegen diesen "Mord des Staates", wie sie ihn nannten, auf dem Syntagma-Platz versammelten. Dabei wurde der Vorsitzende der Vereinigung der griechischen Fotoreporter, Marios Lolos, durch Knüppelschläge auf den Hinterkopf so schwer verletzt, dass er wegen Schädelbruchs operiert werden musste.

Die Furcht vor sozialen Explosionen in Griechenland ist nicht unbegründet. Die dem Land von der eigenen Regierung und der Gläubigertroika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank verordnete Sparpolitik hat mehr als 20 Prozent Arbeitslose gebracht, dazu fast 30 Prozent Menschen, die ihr Leben an der Armutsgrenze fristen - eine Bevölkerungsmehrheit, die nicht mehr im Stande ist, unvorhergesehene Ausgaben, Sondersteuern oder auch nur die laufenden Raten des Kreditvertrags zu bezahlen. Und ein Ende der Kürzungen ist nicht abzusehen. Nachdem im Namen des Defizitabbaus zuerst Staatsausgaben bei Bildung und Gesundheit sowie die Renten und Löhne im öffentlichen Dienst gekürzt worden waren, wird nun unter dem Vorwand der Wettbewerbsfähigkeit die Schere auch bei den Löhnen und beim Tarifrecht in der privaten Wirtschaft angesetzt.

22 Prozent Kürzung

Kernstück ist dabei die im Februar beschlossene Kürzung aller Löhne, die auf dem im ganzen Land geltenden Tarifvertrag basieren, um 22 Prozent. Davon sind nicht nur die etwa 400.000 Mindestlohnbezieher betroffen, deren Bruttolohn von 751 auf 586 Euro sinkt. Der 22-prozentige Abschlag gilt für alle Lohnstufen im allgemeinen Tarifvertrag. Wer sich in zehn Jahren Schufterei zum Beispiel auf 962 Euro brutto hochgearbeitet hatte, muss nun wieder mit 750 Euro auskommen. Betroffen ist auch das an den Mindestlohn gekoppelte Arbeitslosengeld. Es verringert sich von 461 auf 323 Euro monatlich. Mittelfristig wird die Absenkung aller Löhne auf Mindestlohnniveau angestrebt. Denn nach dem neuen Gesetz gilt der neue, beschnittene Tarifvertrag automatisch anstelle aller auslaufenden Branchentarifverträge, die nicht innerhalb von drei Monaten ersetzt werden. Mit einer derartigen Vorlage im Rücken haben bereits jetzt zahlreiche Unternehmer Haustarife mit Lohnsenkungen zwischen 20 und 30 Prozent erzwungen.

Eine schwere Lage für die Gewerkschaften. Nach sieben Generalstreiks im Jahr 2010 und sechs im vorigen Jahr wurde 2012 bisher nur im Februar auf die Verabschiedung der neuen Maßnahmen mit immerhin gleich zwei Generalstreiks in einer Woche reagiert. In einzelnen Branchen laufen harte Arbeitskämpfe, meist für den Abschluss eines Tarifvertrags, um dem Rückfall auf den Mindestlohn zu entgehen. Erfolgreich endete eine solche Auseinandersetzung Anfang April für die Tagelöhner im Werftengürtel westlich von Athen, die einen Tageslohn von 99 Euro brutto durchgesetzt haben.