Knapp 16 ist Brigitte Eicke, als sie beginnt, in ihrem kleinen Kalender Tagebuch zu schreiben. Die Berlinerin macht stenographische Aufzeichnungen, ab Weihnachten 1942, nur für sich - im Grunde als Steno-Übung für ihre Lehre im Büro. Und dann hört sie nicht mehr auf, akribisch zu notieren, was sie erlebt, zwischen dem Hackeschen Markt und der Immanuelkirchstraße im Bezirk Prenzlauer Berg.

Es ist ihr Alltag, den sie sachlich beschreibt, mit vielen Details: Schule und Kino, Essen (Pellkartoffeln und Blutwurst), Ausflüge und selbstgenähte Kleider. Die Familie ist wichtig, die Freundinnen und Verehrer, auch die Ausbildung zur Führerin in einem Lager des BDM, der Mädchenorganisation der Nazis. Immer öfter muss sie von Fliegeralarm und Bombennächten berichten, manchmal erlebt - und überlebt - sie drei Luftangriffe in einer Nacht. Alles notiert sie direkt und unbefangen, auch als sie nach dem Krieg die Steno-Texte in Langschrift abschreibt, beschönigt sie nichts, ergänzt nur manchmal etwas. An mögliche Leser/innen denkt sie zu keiner Zeit.

Im Tagebuch erfährt man, wie sie den Krieg erlebt: Sie sieht den Berliner Dom brennen und ist dabei, als der Hackesche Markt am 3. Februar 1945 in Trümmer fällt. Brigitte Eicke glaubt auch zu der Zeit noch an den Endsieg der Deutschen. Sie ist ehrgeizig im BDM und eifrig im Betrieb. Im Frühjahr 1944, mit 17, wird sie in die NSDAP übernommen. Der Anlass für die Aufnahme vieler Jugendlicher ist Hitlers Geburtstag, am nächsten Tag schreiben die Zeitungen von den Jugendlichen, die "Hitler zum Geburtstag geschenkt" wurden. Erst nach harter Arbeit wird Brigitte Eicke am 14. Juli 1945 offiziell entnazifiziert. Sie schreibt: "Heute war der glücklichste Tag. Ich bin nicht mehr Nazi. Ich bin so so froh."

Für ihr Buch Backfisch im Bombenkrieg haben die Herausgeber/innen ein langes Interview mit ihr geführt, in dem die alte Frau im Rückblick Erlebnisse bewertet, wach und kritisch. Historische Fotos ergänzen das persönliche Tagebuch. Etwas Besonderes sind auch die Anmerkungen der Herausgeber, die vieles erklären und ergänzen: Was war ein Zellenwart, was war der Reichsberufswettkampf und was Scho-ka-kola? Was geschah beim Luftangriff des jeweiligen Tages? In den gründlich recherchierten Zusatzinformationen werden auch die Filme beschrieben, die Brigitte Eicke gesehen hat, Landschaften wie der Faule See und Tanzdielen wie das Uhland-Eck - Orte, an denen sie war. Ein Geschichtsbuch besonderer Art.

Claudia von Zglinicki

Backfisch im Bombenkrieg. Herausgegeben von Barbara Felsmann, Annett Gröschner und Grischa Meyer. Matthes & Seitz Berlin, 400 S., 29,90 €