Der Autor Philip Meinhold beschreibt in seinem neuen Buch eine Reise nach Auschwitz, die er mit seiner Mutter, seinen Geschwistern und deren Kindern unternimmt. Gespräche mit der Mutter und seine Recherchen führen ihn zurück in die eigene Familiengeschichte. Gelungen ist ihm eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Frage, was Auschwitz für die heutige Zeit bedeutet. Wir dokumentieren Auszüge aus seinem Buch Erben der Erinnerung

Großvater Arnulf Meinhold

Es ist ein merkwürdiger Wunsch, den meine Mutter kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag da äußert. Ich habe sie gefragt, was für Wünsche oder Pläne sie für ihr Leben noch habe, sie antwortet: "Ich möchte mit meinen drei Kindern und den großen Enkeln gerne nach Auschwitz fahren." Andere würden vielleicht von einer Kreuzfahrt sprechen, einer Reise nach Indien, darüber, ihre Memoiren schreiben zu wollen - meine Mutter möchte nach Auschwitz.

Mein erster Gedanke: Sie hofft auf ein ergreifendes Erlebnis mit uns. Ich bin peinlich berührt, frage nicht weiter nach, lasse den Satz in der Luft hängen, als hätte ich nichts gehört. Ich tue die Äußerung ab als spontane Idee meiner Mutter, bin mir nach ein paar Wochen nicht mal mehr sicher, ob sie selbst noch daran denkt. Aber ich vergesse den Wunsch nicht, von Zeit zu Zeit fällt er mir ein, bis ich irgendwann denke: Na gut, wenn sie das will - das lässt sich ja machen.

Mein Bruder sagt: "Da kommt die Lehrerin durch, die ihren Enkeln noch etwas mit auf den Weg geben will." Meine Schwester findet, es sei eine sehr weise Idee: Unsere Mutter wolle mit uns und ihren Enkeln nach Auschwitz fahren in dem Wissen, wie knapp es gewesen ist; wie leicht es hätte sein können, dass wir nicht dort stehen ...

Und so schenken wir ihr diese Fahrt zum Geburtstag. Statt uns wie sonst an Weihnachten oder auf Familienfeiern zu treffen, fahren wir zu siebt nach Auschwitz: unsere Mutter Ingeborg, meine Geschwister Anne und Robert, ihre jeweils ältesten Kinder Milan, Jonas, Jaci - drei Generationen einer deutschen Familie im Alter von fünfzehn bis zweiundsiebzig. [...]

Urgroßmutter Anna Bartz mit Kindern

Ihre Großmutter war Jüdin, eine geborene Lachmann, Tochter eines jüdischen Fleischermeisters, selbst Mutter dreier Kinder: meines Großvaters Herbert, seiner Schwester Trude, seines jüngeren Bruders Günther. Alle drei Kinder wurden christlich erzogen, galten aber nach der nationalsozialistischen Rassendoktrin als "Mischlinge ersten Grades". Tante Trude verlor 1943 ihre Arbeitsstelle als Filialleiterin bei einer Süßwarenfirma und musste zum Arbeitsdienst in die Fabrik; Onkel Günther, der eine Jüdin geheiratet hatte, wurde mit seiner Frau Margot nach Theresienstadt deportiert und später weiter nach Auschwitz. Auch die Großmutter meiner Mutter kam nach Theresienstadt. Alle drei haben überlebt.

Der Vater meiner Mutter wurde nicht deportiert. Zwar galt auch er als "Halbjude", verlor seine Arbeitsstelle bei der Deutschen Reichsbank, später die bei einer arisierten jüdischen Bank; er durfte bei Fliegeralarm nicht in den Luftschutzbunker, erhielt die geringste Zuteilung an Lebensmitteln - doch vor dem KZ bewahrte ihn im Gegensatz zu seinem Bruder die Hochzeit mit einer "arischen" Frau.

Nachdem Tante Margot aus Auschwitz zurückgekehrt war, erzählte sie meiner Großmutter innerhalb einer Nacht ihre Erlebnisse aus den Lagern. Sie sagte: "Ich werde dir jetzt alles ein Mal erzählen, danach möchte ich nie mehr darüber sprechen." Meine Großmutter erzählte es später meiner Mutter weiter - und diese erzählt es nun mir.

Wir sitzen in der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, im Wohnzimmer meiner Mutter. Im Regal die Bücher ihres Lieblingsschriftstellers Max Frisch, daneben Ratgeber über Akupressur und die Heilmethoden der Schamanen. Wenn wir schweigen, ist das Ticken der Uhr zu hören. In der Weitergabe der Erinnerungen schnurren die Monate im KZ auf einzelne erzählbare Momente zusammen: der Moment, als Onkel Günther und Tante Margot abgeholt wurden; der Moment, als sie in Auschwitz an der Rampe voneinander getrennt worden sind; der Moment, als Margot ihren Mann im Lager auf der anderen Seite des Zauns entdeckte, zu ihm lief und rief: "Günthi! Günthi!" Zur Strafe wurde sie von SS-Männern geohrfeigt, bis sie ohnmächtig wurde - die Kopfschmerzen wurde sie den Rest ihres Lebens nicht los, bis zu ihrem Tod 40 Jahre später.

Am Abend sehen wir eine DVD zusammen, die meine Mutter in der Bücherei ausgeliehen hat. Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihr einen Film über den jüdischen Kinderarzt Janusz Korczak sehen würde, der mit 200 Waisenkindern nach Treblinka ging. Alleine würde sie sich nicht trauen. Auch meine Mutter bereitet sich auf unsere Reise vor. Sie erzählt, dass sie sich zuletzt bereits Das Leben ist schön und Auf Wiedersehen, Kinder angesehen hat. Ich glaube nicht, dass es ihr bewusst ist, aber: Sie - die Enkelin einer Jüdin - sieht sich ausschließlich Filme an, in denen jüdische Kinder ins Gas gehen. Die bleibende Fantasie einer damals Sechsjährigen.

Wir setzen uns ins Wohnzimmer und schauen den Film; mit leichtem Unbehagen stelle ich fest, dass er mich emotional nicht berührt. Ich gehe in die Küche, um uns eine Tafel Schokolade zu holen. Ja, sagt die Mutter, daran habe sie auch schon gedacht. Aber dann sei es ihr irgendwie merkwürdig vorgekommen, während so eines Films Schokolade zu essen. Ich kenne diese Art von Gedanken: Darf man es sich bei einem Buch über den Holocaust im Bett gemütlich machen? Darf man zwischendurch fernsehen? Sich langweilen? [...]

Normalerweise schiebe sie das Thema immer weg, erzählt meine Mutter, nachdem wir den Film gesehen haben. Aber wenn dann solche Sachen kämen, in Büchern und Filmen, dann merke sie, wie sehr sie das berühre.

"Und wie genau fühlt sich das an?"

"Ich weiß nicht", sagt sie und sieht mich ratlos an. Sie habe irgendwie nicht gelernt, Gefühle wahrzunehmen, geschweige denn, darüber zu reden. Über Tätigkeiten könne sie reden, aber über Gefühle ... Das sei nicht gefragt gewesen.

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In ihrem Buch Der Holocaust im Leben von drei Generationen beschäftigt sich Gabriele Rosenthal mit dem Schweigen in Opfer- und Täterfamilien und der weitreichenden Wirkung von Familiengeheimnissen - kurz: mit dem, was auf diesen Bildern nicht zu sehen ist. Sie kommt zu dem Ergebnis: Je weniger in Familien über die NS-Zeit gesprochen werde, desto nachhaltiger wirke sich die Vergangenheit auf die Generationen der Kinder und Enkel aus. Die Nachgeborenen füllten die nicht-erzählten Geschichten mit Fantasien - oder sie versuchten mit viel Energie, der Vergangenheit auszuweichen. So könnten sowohl die Enkel von Opfern als auch jene von Tätern unter Phobien, Depressionen, Träumen und Ängsten leiden.

Es ist, denke ich, als wären wir, die wir heute zwischen 30 und 50 sind, mit einem rezessiven Gen ausgestattet - einem Gen, das uns mit der Zeit des Nationalsozialismus verbindet. Denn eigentlich kann es in Deutschland ja niemanden geben, der damit nichts zu tun hat; der nicht Nachfahre von Opfern, Tätern, Drückebergern, Mitläufern ist - die Grenzen dabei sind oft fließend.

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Großeltern Herbert und Herta Bartz

Onkel Günther und Tante Margot kamen zunächst nach Theresienstadt; am 26. Januar 1943 wurden sie deportiert. Onkel Günther war damals 36 Jahre alt, Tante Margot sechs Jahre jünger. Am Tag ihres Abtransports riefen sie noch bei meinen Großeltern an, sagten, dass sie nun abgeholt würden. Als Prokurist einer Firma, die Autos vertrieb, besaß mein Großvater Wagen und Telefon; zusammen mit meiner Großmutter fuhr er sofort zu ihnen. Eine der wiederkehrenden Anekdoten, die meine Mutter erzählt, ist die von der gepackten Tasche, die bei Günther und Margot im Flur stand und die ein SS-Mann gerade an sich nehmen wollte. "Das ist meine", sagte meine Großmutter und griff sich die Tasche, rettete so wenigstens ein paar Wertsachen und Dokumente.

Zunächst wurden sie im Sammellager in der Gerlachstraße interniert, einem ehemaligen jüdischen Altersheim, bevor sie am nächsten Tag nach Theresienstadt kamen. Im Online-Archiv von Yad Vashem entdecke ich eine genaue Beschreibung ihres Transports: Zwischen zwei und drei Uhr morgens wurden sie geweckt und verließen nach einem einfachen Frühstück das Sammellager. Zu Fuß ging es ein paar Hundert Meter zum Alexanderplatz, wo bereits ein Straßenbahnwagen der BVG wartete. Um 5:15 Uhr trafen sie am Anhalter Bahnhof ein, wo sie durch einen Seiteneingang zum Gleis gebracht wurden. In zwei alten Waggons dritter Klasse, die an den fahrplanmäßigen Frühpersonenzug angehängt waren, fuhren sie gegen sechs Uhr früh Richtung Dresden. Von dort ging es an der Elbe entlang bis nach Bohušovice und zu Fuß die etwa drei Kilometer nach Theresienstadt. Am Abend trafen die Deportierten dort ein. Unter ihnen Leo Baeck und Dr. Paul Eppstein, Mitglied der Reichsvertretung der Deutschen Juden, der in Theresienstadt als Judenältester eingesetzt und später erschossen wurde. Von den 100 Deportierten in Günthers und Margots Transport haben 18 Personen überlebt.

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Eltern Inge und Arno Meinhold

Am Abend sitzen wir im Esszimmer unseres Appartements zusammen, und meine Mutter zeigt uns den Stammbaum, den sie gebastelt hat. In der obersten Reihe sind Fotos meiner Urgroßeltern zu sehen, der Großeltern meines Vaters und meiner Mutter, darunter Bilder ihrer Elternpaare: meines Rennfahrer-Opas Arnulf und seiner Frau sowie meiner Oma Herta und ihres Mannes. Auch Trude, Günther und Margot sind in dieser Reihe zu sehen. Darunter kommen meine Eltern - meine Geschwister und ich - die Kinder meiner Geschwister. Insgesamt fünf Generationen einer Familie, knapp 150 Jahre von damals bis heute.

Dass sie ganz unten mit abgebildet sind, freut ihre Enkel. Vielleicht, weil es gut ist zu wissen, woher man kommt; vielleicht, weil es einem hilft zu verstehen, wer man ist. Und vielleicht, weil der Stammbaum so wirkt, als wären sie das Ziel von allem gewesen. (Das Bundesverfassungsgericht zählt das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit: Demnach wäre nicht die Abstammung identitätsstiftend im Leben eines Menschen, sondern das Wissen über sie.)

Meine Mutter zeigt uns die Museumsstücke der Familiengeschichte - den Judenstern, den ich als Zwölfjähriger mit in die Schule nahm; die Postkarten, die Günther und Margot aus Theresienstadt schrieben; die Ausweise, die sie nach dem Krieg als Opfer des Faschismus bekamen. Sie sehen ein bisschen aus wie alte Sparkassenbücher: rote, aufklappbare Pappdeckel mit den zackigen Buchstaben KZ vorne drauf, ähnlich dem Zeichen eines Superhelden auf der Brust, so als handele es sich um etwas Tolles.

Geschwister Meinhold

Sie erzählt uns unsere Familiengeschichte, dazu die fragmentarischen Erinnerungen, die sie hat - die Wahrnehmungen eines fünf-, sechs-, siebenjährigen Mädchens: von den Nachbarskindern, die nicht mehr mit ihr und ihrem Bruder spielen dürfen; von dem Luftangriff, der die Familie unterwegs überrascht und vor dem Mutter und Kinder in einen Bunker fliehen, während der Vater alleine nach Hause eilen muss; die Geschichte von ihrem Vater, der, als er die Zeitung holen will, einen Haufen Kot im Briefkasten findet.

Für Milan, Jonas und Jaci ist dieses Gespräch das eigentliche Highlight der Reise. "Ich wusste gar nicht, dass überhaupt jemand im KZ war", sagt Jonas später. Dass es Juden als Vorfahren gab, habe er gewusst, aber mehr eigentlich nicht. Das sei ziemlich überraschend gewesen. Und Jaci sagt, sie habe einen Eindruck bekommen, wie alles zusammenhänge: "Davor hatte ich von der Vergangenheit immer so ein verschwommenes Bild. Aber wenn man zu den Geschichten Fotos sieht und die familiäre Beziehung erfährt, wird das Bild plötzlich deutlich und klar." [...]

In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte der französische Soziologe Maurice Halbwachs eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses: die gemeinsame Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund hat - einer Familie, einer Schulklasse, einer Nation, eines Volkes. Halbwachs' zentrale These: Der einzelne Mensch sei zwar Träger seines Gedächtnisses, Form und Inhalt aber seien sozial vermittelt. Ähnlich der Sprache bilde sich das Gedächtnis nur durch Kommunikation mit anderen aus: durch Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen uns nahestehender Personen. Diesen Gedanken entwickelten die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann weiter. Sie unterscheiden zwei Formen der kollektiven Erinnerung: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis.

Das kommunikative Gedächtnis besteht aus den Erfahrungen und Erlebnissen, die ein Mensch persönlich gemacht hat und die er weitererzählt. Diese Erinnerungen sind bruchstückhaft, unorganisiert, häufig zufällig - eben so, wie die Erinnerungen eines jeden von uns. Das kommunikative Gedächtnis reicht nicht weiter zurück als etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen nach dem Geschehen.

Das kulturelle Gedächtnis dagegen ist so etwas wie das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. Es ist nicht an Personen gebunden und kann Jahrtausende überdauern. Dafür muss das Wissen über die Vergangenheit in "objektivierte Kultur" geformt werden - in Texte, Bilder, Riten oder Denkmäler. Mit ihnen wird an wichtige Ereignisse der Vergangenheit erinnert und das Wissen über diese Vergangenheit tradiert. Auch Auschwitz ist als Ort der Erinnerung Bestandteil dieses kulturellen Gedächtnisses.

In unserer Reise verbinden sich beide Formen der Erinnerung: Wir fahren nach Auschwitz, um die Gedenkstätte zu besichtigen, gleichzeitig nehmen wir die Fahrt zum Anlass, um über die Vergangenheit ins Gespräch zu kommen - ein letztes Mal höchstwahrscheinlich. Jonas, Jaci und Milan gehören zur vierten Generation nach dem Holocaust, jener Generation, mit der das kommunikative Gedächtnis laut Jan Assmann stirbt. Ein letztes Mal wird die Erinnerung also mündlich weitergegeben, von meiner Mutter an ihre Enkel.

PHILIP MEINHOLD (*1971) ist BUCHAUTOR UND JOURNALIST UND LEBT IN BERLIN. DAS BUCH ERBEN DER ERINNERERUNG IST IM VERBRECHER-VERLAG ERSCHIENEN UND KOSTET 14 €

"In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte." Raul Hilberg