Diego Vila und Yolanda Sáez aus Madrid gehören zu denen, die in Spanien "die Empörten" genannt werden. Der Tontechniker, der sich mangels Arbeit dem Bau von E-Gitarren widmet, und die selbstständige Video-Produzentin waren dabei, als Zehntausende im Mai 2011 die Plätze Spaniens füllten und ihrer Unzufriedenheit mit der spanischen Politik Ausdruck gaben. "Wir waren damals auf der Suche nach etwas Neuem, doch irgendwie befriedigte uns das alles noch nicht", sagt Vila. "Es gab viele Debatten, aber keine ordentlichen Strukturen, um wirklich Politik zu machen", so beschreibt er die "Bewegung 15M", benannt nach jenem 15. Mai 2011, als alles begann. Die Suche der Aktiven ging weiter, bis sie auf einen 36-jährigen Politikprofessor aufmerksam wurden, der in TV-Talkshows für Aufsehen sorgte. Es war Pablo Iglesias, der heutige Generalsekretär der Protestpartei Podemos, zu Deutsch "Wir können".

"Er sprach uns aus der Seele", erinnert sich Yolanda Sáez. "El coletas", der mit dem Pferdeschwanz, wie er genannt wird, kritisierte die Sozialkürzungen in Folge der Krisenpolitik, die Zwangsräumungen von Wohnungen, die "Rettung von Banken statt der Rettung der Menschen" angesichts der hohen Arbeitslosigkeit. Er prangerte die Korruption an, die Spanien als Folge des Immobilienbooms fest im Griff hat. "Wenn Du nicht selbst Politik machst, machen sie die Politik für dich", sagte Iglesias und gab im Januar 2014 bekannt, mit Podemos die Kandidatur für die Europawahlen vorzubereiten. Für Vila und Sáez war sofort klar: "Da sind wir dabei." Das junge Paar schloss sich einem der ersten Podemos-Kreise in der Madrider Altstadt an.

Offene Bürgerversammlungen

Die Kreise sind offene Bürgerversammlungen, auf denen konkrete Probleme diskutiert und Aktionen geplant werden. 1000 solcher Basisversammlungen gibt es inzwischen. Keiner fragt, woher jemand kommt, welcher sozialen Schicht er angehört, wen er zuvor gewählt hat. Alle verbindet eines: der Wunsch nach einem tiefgreifenden Wandel, nach dem Ende der Sozialkürzungen und der Korruption. Es gehe um "den gesunden Menschenverstand", sagen Vila und Sáez. Beide hatten vor der Krise die PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) gewählt. "Die Aufnahme einer Schuldenbremse in die Verfassung, die den Zinszahlungen an die Banken Vorrang vor den Sozialausgaben gibt, brachte für mich das Fass zum Überlaufen", sagt Sáez, die Mutter zweier kleiner Kinder ist. Es ist die Schuldenbremse der PSOE, die den Kahlschlag unter der Volkspartei (PP) des derzeitigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy nach sich zog.

Bei den Europawahlen im Mai 2014 holte Podemos überraschend 1,2 Millionen, also acht Prozent der Stimmen und hat damit fünf EU-Abgeordnete. Die beiden großen Parteien erzielten erstmals in der Geschichte der spanischen Demokratie zusammen weniger als 50 Prozent. Seither steigt Podemos bei den Umfragen unaufhörlich in der Gunst der Wähler/innen. Die neue Partei zieht nicht nur sozialistische Wähler oder die der postkommunistischen Vereinigten Linken (IU) an. Auch die Volkspartei (PP) hat Stimmen an Podemos verloren. Längst ist aus Podemos eine breite Bewegung geworden. Über 350.000 Menschen haben sich online eingeschrieben. Die über 1000 Kreise versammeln sich Woche für Woche in Spanien, und auch die Emigrant/innen im Ausland treffen sich.

Podemos-Anhänger am 31. Januar in Madrid

Die Idee zu der neuen Partei entstand an der Politikfakultät der Universität Complutense in Madrid. Dort unterrichtet der Kern der Podemos-Gründer um Pablo Iglesias. Der Doktor der Politik und Sohn einer Gewerkschafterin aus einem Arbeiterviertel der Hauptstadt hat in Spanien, Italien, Mexiko, der Schweiz und den USA studiert. Sein politischer Werdegang führte ihn durch zahlreiche studentische Bewegungen, die Kommunistische Jugend sowie die "Jugend ohne Zukunft", ein Vorgänger der Bewegung 15M.

Mitte-links oder Mitte-rechts - die Politik ist die Gleiche

"Wir gingen davon aus, dass ein neues Werkzeug für Bürgerbeteiligung notwendig war", sagt ein Weggefährte von Pablo Iglesias, Iñigo Errejón, über die Podemos-Gründung. Der 31-jährige Doktor der Politik ist im Bürgerrat - dem Parteivorstand - für Strategie und Kampagnen zuständig. Links oder Rechts sind für ihn überholte Kategorien. Denn "ob Mitte-Links oder Mitte-Rechts, die Politik ist die gleiche: harter Spardruck, Sozialkürzungen".

Podemos spricht von "unten" und "oben", von "den Leuten" und von der "Kaste", dem Klüngel aus Politik und Wirtschaft, der sich vor allem dank der Spekulationsblase in der Bauindustrie bereichert hat. Das sei Populismus, lautet der Vorwurf an Podemos. Errejón weist diesen Vorwurf weit von sich. "Sie werfen uns vor, einfache Lösungen für komplizierte Probleme anzubieten", sagt er. Dabei sei es das, was die Parteien bisher gemacht hätten: "Sie haben Aufschwung versprochen, aber gleichzeitig die Rechte der Bürger gekürzt und per Verfassung die Rechte der Banken gesichert." Viele Wähler hätten das nicht verziehen. Podemos will "die Souveränität der Bürger in einem Land zurückerobern, das in den Händen unfähiger Eliten ist, die nur an sich selbst denken".

Gemeinsamer Block gegen Sparzwang in Europa

"2015 stehen wir vor der Herausforderung, die Wahlen zu gewinnen und die Regierung zu stellen", sagt Pablo Iglesias selbstsicher. Ende Mai finden in Spanien Kommunal- und Regionalwahlen statt, im Herbst dann Parlamentswahlen. Umfragen sehen Podemos zurzeit auf Platz zwei oder sogar ganz vorn. "Das ist nicht nur unser eigener politischer Erfolg, sondern sicher auch das Ergebnis des Scheiterns dessen, wie in Europa regiert wird", sagt Iglesias, der sich einen Anti-Sparpolitik-Block in Europa wünscht.

Podemos hat sich in Europa der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken und Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) angeschlossen. Vor allem mit der griechischen Regierungspartei Syriza arbeiten die Spanier eng zusammen.

Iglesias hat auch Alexis Tsipras im Wahlkampf unterstützt. Der griechische Ministerpräsident gilt ihm als Vorbild dafür, dass der Süden nicht als Bittsteller nach Brüssel und Berlin reist, sondern hart verhandelt. Iglesias strebt ein gemeinsames, länderübergreifendes Vorgehen an. Auch Portugal und Irland wählen noch in diesem Jahr und könnten unter einer neuen Regierung zusammen mit Griechenland und Spanien einen Schwenk in der Europolitik einfordern. Für Italien hofft Iglesias darauf, dass Premier Matteo Renzi sich einem solchen Block anschließen wird; von der Bewegung "MoVimento 5 Stelle", zu deutsch 5-Sterne-Bewegung, erwarten die Aktiven bei Podemos nicht viel; zu unklar erscheint ihnen das, was der Kopf der Bewegung Beppe Grillo will. Auch seine Partei war 2009 aus Bürgerversammlungen entstanden und versteht sich heute noch als freie Bürgerversammlung.

Große Teile der spanischen Protestbewegungen gegen die Sparpolitik sehen sich durch Podemos vertreten. Alte Strukturen verlieren dabei an Einfluss, allen voran die PSOE und die Vereinigte Linke (IU). "Mir hätte es gefallen, wenn die alte Linke und die neue Bewegung zusammengegangen wären, doch das war nicht möglich", sagt Aida San Millán. Die Englischlehrerin ist Jugendsekretärin im Vorstand der Lehrergewerkschaft der größten spanischen Arbeitnehmerorganisation, der CCOO in Madrid. Wie ihre Eltern - beide ebenfalls CCOO-Mitglieder - wählte sie die Linke, bevor sie zu Podemos wechselte. "Podemos steht für einen Wandel weit über die nächsten Wahlen hinaus", sagt San Millán. Spanien verändert sich. Die Bewegung der Empörten ist mit Podemos in der Mitte der Gesellschaft angekommen.