Man sieht nur, was man weiß

LobbyControl: LobbyPlanet Berlin

"Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen", sagte Johann Wolfgang von Goethe einst, und Recht hat er. Etwa wenn sich der heutige gescheite Mensch einem ungewöhnlichen Reiseführer durch unsere Hauptstadt anvertraut, denn der wirft ein erhellendes Licht in den dortigen Lobby-Dschungel. Seit nunmehr zehn Jahren wirkt der Verein LobbyControl, eine der erfolgreichsten Nichtregierungsorganisationen der letzten Jahrzehnte, aufklärend: LobbyControl hat unter anderem dafür gesorgt, dass die Nebeneinkünfte von Abgeordneten transparenter wurden und machte den Skandal öffentlich, dass Lobbyisten in den Ministerien die Gesetze gleich selber schreiben.

LobbyPlanet Berlin heißt der etwas andere Reiseführer, der anhand von sechs Routen mit 107 Stationen und zwei Fahrradtouren kreuz und quer durch das Regierungsviertel zu den Verbänden, PR-Agenturen und Unternehmen führt, die ihre Interessen mehr oder minder klandestin, subtil oder aggressiv in die Regierungs- und Parlamentsarbeit einschleusen und an die Minister und Abgeordneten herantragen. "Unter den Linden Ost" beginnt beispielsweise die 4. Route, die zu Bertelsmann, der Deutschen Bank, Microsoft, zur Metro-Group, dem Förderkreis Deutsches Heer und zur Volkswagen AG führt, rund um den Gendarmenmarkt kann man bei Siemens, der Evangelischen Kirche Deutschlands, der Stiftung Marktwirtschaft und dem Zentralverband des Deutschen Handwerks vorbeischauen.

Neben der Aufklärung über die für ihre Beeinflussungsarbeit einschlägig berüchtigten Rüstungs- oder Autokonzernen ist die Information über das unheilige Wirken sogenannter "Think Tanks" unter harmlosen Namen wie "Konvent für Deutschland" verdienstvoll. Man lernt, übrigens auf durchaus unterhaltsame Weise, auf zwei gesonderten Routen sehr viel über die geballte Repräsentanz und den Einfluss der Energie- und der Gesundheitslobby und ebenso anhand von Beispielen, was die Lobbyisten alles erreichen, wenn sie beispielsweise in vermeintlich unabhängige "Expertengruppen" berufen werden. Man denke nur an die nach ihren Verursachern benannte Rürup-Rente oder die Hartz-Gesetze. Vervollständigt wird das handliche Büchlein durch einen Index, Infokästen und die ausführliche Darstellung der Forderungen und Perspektiven von LobbyControl. Man kann nur hoffen, dass sich auf den Routen genügend Bänke und Cafés finden, damit man jeweils die höchst informativen Beschreibungen der Lobbyisten nachlesen kann, an denen man gerade vorbeiwanderte. Reisen soll schließlich auch der Erholung dienen. Ulla Lessmann

www.lobbycontrol.de, 324 S., 10,00 €


Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

1979: Behsad, ein junger Kommunist, kämpft nach der Vertreibung des Schahs für eine neue Ordnung im Iran. 1989: Nach der Flucht vor den Mullahs lebt Behsad mit seiner Frau Nahid und ihren Kindern Laleh und Morad in Deutschland. Sie passen sich an, richten sich ein, hoffen auf eine Rückkehr. 1999: Nahid und Laleh reisen erstmals wieder nach Teheran. Doch ihre Heimat hat sich verändert, und sie selbst sich auch. 2009: Morad verfolgt im Internet eher gleichgültig die iranische "grüne Revolution". Denn ihm fehlen die enge Verbundenheit seiner Eltern und die starken Erinnerungen seiner Schwester. Shida Bazyar hat ihre deutsch-iranische Familiengeschichte brillant konstruiert. Aus den subjektiven Perspektiven von Vater, Mutter, Tochter und Sohn erzählt sie in vier Zeitebenen vom Leben zwischen zwei Kulturen. Politische Proteste und gesellschaftliche Veränderungen spielen in ihrem bewegenden Buch eine ebenso große Rolle wie Frauenhände, die Weinblätter wickeln, oder der Duft von warmen Brotfladen. Ein herausragender literarischer Roman über Unterdrückung, Flucht, Hoffnung und Integration. Günter Keil

Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 19,99 €


Elvis Costello: Unfaithful Music

Seien wir ehrlich: Autobiografien von Musikern können ganz schön öde sein in ihrer Abfolge von Auftritten und Aufnahmen. Andererseits ist der Blick hinter die Kulissen des Popgeschäfts, in die oft erschreckend grauen Abgründe, dann doch immer wieder spannend. Unfaithful Music von Elvis Costello bietet beides: langweilige Erörterungen der Qualitäten von Bassisten, aber auch schonungslose Erinnerungen an die Verführungen des schnellen Ruhms, die seine erste Ehe zerstörten. Es ist ein weitgehend zerknirschter, aber trotziger Declan Macmanus, der sich ausführlich an seine Kindheit in Liverpool erinnert und an den schnellen Aufstieg der von ihm geschaffenen Kunstfigur Elvis Costello im Fahrwasser des Punk, an die Begegnungen mit Joni Mitchell, Joe Strummer, Bob Dylan, Van Morrison oder Paul McCartney, an seine bekanntesten Songs wie Oliver's Army und wie sie entstanden sind. Ohne Ghostwriter verfasst, offenbart Costello zwar eine bislang ermüdende Neigung zum Detail, aber auch einen trockenen, sehr britischen Humor. Munter springt der mittlerweile 61-jährige Elvis Costello durch die Zeitebenen, lässt keine Gelegenheit aus für einen Witz und hat zu allem eine Meinung. Nein, öde ist diese Autobiografie wirklich nicht. Thomas Winkler

Berlin Verlag, Ü: H. Dedekind, H. Heise, H. Mania, 784 Seiten, 29,99 €


Sabine Kornbichler: Das böse Kind

Serienheldinnen haben ihre Tücken: Neuleser müssen auf den Stand der Dinge gebracht werden, ohne dass Fans gelangweilt sind. Sabine Kornbichler löst das Problem geschickt, in dem sie ihrer schon bewährten Protagonistin, der amtlich bestellten Nachlassverwalterin Kristina Mahlo, einen neuen Liebhaber beschert, der die blonde Münchnerin natürlich zunächst kennenlernen muss. Die Autorin hat mit Mahlo eine warmherzige, sympathische Ermittlerin geschaffen, mit deren Familie und Freunden - die gelegentlich detektivisch hilfreich sind - man sich auch als Normalmensch gut identifizieren kann. Das ist eher die Ausnahme in der derzeitigen Krimilandschaft. Auch dem Trend, immer mehr und immer grausamer zugerichtete Leichen und immer perversere Mörder zu präsentieren, folgt Kornbichler nicht. Der sich zunächst ruhig entwickelnde und dann immer temporeicher geschilderte Fall ist gruselig genug: Bei ihrer Suche nach den Erben einer jungen Frau, die in unerklärlicher Panik vor ein Auto rannte, stößt Mahlo auf einen Vergewaltiger, der sich durch einen perfiden Trick auch nach den Taten Macht über seine Opfer verschafft. Neugierig und empathisch mischt die Nachlassverwalterin sich in Dinge ein, die sie nichts angehen, und entflicht eine tödliche Familienstruktur. Es gelingt Kornbichler ausgesprochen gut, trotz nur dreier Verdächtiger die Spannung bis zum Schluss hoch zu halten und den Charakter ihrer Figuren differenziert und glaubwürdig darzustellen. Ulla Lessmann

Piper, 378 Seiten,12,99 €