"...Deßhalb müssen wir für uns sorgen!"

Tarifpolitik, die Kernaufgabe der Gewerkschaften, spielte für die Buchdrucker und ihre Organisation von Anfang eine große Rolle

Lauter Männer, ernste Gesichter, erregte Debatten und viel Papier - so wurde noch im Jahre 1906 verhandelt. Ein paar Jahrzehnte später wird die Bundesrepublik bunt plakatiert: 35 Stunden sind genug - das Motto auf einem Plakat der IG Druck und Papier

Von Constanze Lindemann

"Der Arbeiter sieht von Tag zu Tag mehr die entsetzliche Wahrheit ein, dass das Capital sich nur dann um ihn kümmert, wenn es ihn zu einer vorübergehenden Spekulation nöthig hat, und ihn rücksichtslos wie ein todtes Werkzeug in den Winkel wirft, bis es wiederum seiner bedarf", schrieben die Buchdrucker-Gehilfen im Heidelberger Zuruf im Revolutionsjahr 1848. "Der Staat will und kann nicht unsere Existenz garantiren, deßhalb müssen wir für uns sorgen... Alle müssen mit angreifen, denn es geschieht im wohlverstandenen Interesse nicht blos aller Buchdrucker, sondern auch der menschlichen Gesellschaft überhaupt." Die Gehilfen luden für Pfingsten 1848 zur ersten "National-Buchdrucker-Versammlung" nach Mainz ein. Ihnen war bewusst: Geregelte Arbeitsbeziehungen sind die Grundvoraussetzung für gesicherte und ausreichende Einkommen, für erträgliche Arbeitszeiten, für ein würdiges Leben auch im Alter. Dazu bedarf es einer nationalen Organisation.

Der erste Tarifvertrag

In Mainz setzten die Gehilfen ihr Vorhaben um. Der vorgelegte Tarifvertragsentwurf für das Buchdruckgewerbe war der erste Entwurf eines Tarifvertrags überhaupt - und ist bis heute Grundlage für den Manteltarifvertrag der Druckindustrie. Mit detaillierten Regelungen zur Arbeitszeitbegrenzung, zur Mehrarbeit, Facharbeiterbindung, Maschinenbesetzung sowie zum Lehrlingswesen legten sie den Grundstein zur Kontrolle des Arbeitsmarktes im eigenen Gewerbe. Zur Klärung von Streitfragen waren paritätisch besetzte Schiedsgerichte vorgesehen. Es wurde ein Statut für die "Deutsche National-Buchdrucker-Vereinigung" beschlossen, die Kollegen wurden aufgefordert, in die neue Organisation einzutreten: "Wir müssen wollen und handeln, vereint handeln."

Nach der Niederlage der Revolution von 1848 schafften die Gehilfen knapp 20 Jahre später einen Neuanfang und gründeten 1866 den Deutschen Buchdruckerverband. Die Druckereibesitzer schlossen sich 1869 zum Deutschen Buchdrucker-Verein zusammen. Um endlich einen Tarifvertrag zu bekommen, traten die Buchdrucker 1872/73 in einen reichsweit koordinierten Streik. Ergebnis war, trotz der Aussperrung von circa 2.000 Gehilfen, der Abschluss des Allgemeinen Deutschen Buchdrucker-Tarifs im Frühjahr 1873.

Das war der erste Tarifvertrag überhaupt. Er enthielt den 10-Stunden-Tag, Regelungen für die Bezahlung von Mehrarbeit und die Errichtung einer Tarifgemeinschaft. Die organisierten Kollegen durften ab 1875 nicht mehr unterhalb dieses Tarifs arbeiten. Ein paritätisch besetzter Tarifausschuss hatte über Konfliktfälle zu entscheiden.

Doch die Arbeitgeber schafften es nicht, den Tarifvertrag bei ihren Mitgliedern durchzusetzen. Das war 1892 Auslöser für die härteste Niederlage des Verbands: Die Schnellpressen hielten Einzug in den Drucksälen, die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Gehilfen streikten für den 9-Stunden-Tag. Aber nach zehn Wochen ergebnislosem Streik war die Tarifgemeinschaft zerbrochen, der Verband verlor 2.000 Mitglieder und bekam den "Gutenberg-Bund" als christliche Konkurrenzorganisation. Doch schon 1896 hatte der Buchdrucker-Verein 5.000 neue Mitglieder gewonnen und setzte einen Tarifvertrag mit dem 9-Stunden-Tag und die Wiedereinrichtung der Tarifgemeinschaft durch.

Kampf um den 8-Stunden-Tag

"Nur Mehrarbeit kann uns retten!" Mit dieser Parole zogen die Prinzipale nach dem Ersten Weltkrieg gegen eine wesentliche Errungenschaft der Revolution von 1918 zu Felde - den 8-Stunden-Tag. Der paritätisch besetzte Buchdruckerrat hatte ihn bereits am 18. November eingeführt. Die Buchdruckergehilfen weigerten sich zwar, mit den anderen grafischen Verbänden eine einheitliche Organisation zu gründen, koordinierten aber gemeinsam mit ihnen im "Graphischen Bund" bis 1933 die Tarifarbeit. Mit den Hilfsarbeitern praktizierten sie umfassende Solidarität, als die Unternehmer die Hilfskräfte aus dem Tarif warfen. Sie verteidigten den 8-Stunden-Tag und verhinderten weitergehende Verschlechterungen bei dem durch Notverordnungen zwangsweise abgesenkten Lohnniveau.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Nach 1945 scheiterte eine gesamtdeutsche Druckgewerkschaft am Kalten Krieg. In Berlin wurde 1946 die IG Graphisches Gewerbe und Papierverarbeitung im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) gegründet, in München gingen 1948 alle Verbände aus den Jahren vor 1933 in der neuen IG Druck und Papier auf. Am 1. Juli 1949 trat der von der IG Druck und Papier ausgehandelte neue Manteltarifvertrag in Kraft und löste die Tarifverträge von vier Verbänden ab. Im September 1950 wurde für die Druckindustrie ein neuer Lohn- tarifvertrag unterzeichnet, für die Papierverarbeitung gelangen nur regionale Abschlüsse. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" blieb für Frauen und Hilfsarbeiter weiterhin Zukunftsmusik.

Im Mai 1952 beschloss die IG Druck und Papier als einzige Gewerkschaft in der Bundesrepublik, gegen das von der CDU-Regierung vorgelegte Betriebsverfassungsgesetz zu streiken. Der DGB hatte gefordert, die Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft auszudehnen. Stattdessen schloss der Gesetzentwurf den öffentlichen Dienst aus und sah die Trennung von Gewerkschaften und Betriebsräten vor. Trotzdem verweigerte der DGB dem Arbeitskampf dagegen jede Unterstützung. Der Zeitungsstreik wurde als "politischer Streik" verboten, die IG Druck und Papier zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.

In den folgenden Jahren gelang es der Drucker-Gewerkschaft, technische Fortentwicklungen tarifvertraglich umzusetzen: 40-Stundenwoche, längerer Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die 1970er-Jahre waren von harten Tarifkämpfen geprägt. 1972/73 wurde mit dem ersten Flächenstreik nach 20 Jahren eine Lohnerhöhung um 10,8 Prozent erreicht, ebenso die zusätzliche Anhebung der unteren Lohngruppen und der Ausbildungsvergütungen. 1976 gelang es trotz der zum ersten Mal von den Unternehmern praktizierten massenhaften Aussperrung die vorgegebene Lohnleitlinie von 5,4 Prozent zu durchbrechen: Der Abschluss brachte schließlich eine Lohnerhöhung von sechs Prozent.

1978 ging es um die Einführung von rechnergesteuerten Textsystemen (RTS), die Umstellung von Blei- auf Fotosatz und damit um den Einstieg in die Digitalisierung der Produktion. Mit flexibler Streiktaktik und erfolgreicher Einbeziehung aller Abteilungen gelang es, den RTS-Tarifvertrag durchzusetzen. Das bedeutete für die Schriftsetzer den Erhalt der Arbeitsplätze und Anspruch auf Weiterbildung sowie für Journalisten geregelte Arbeitsbedingungen an Bildschirmen - ein erster Erfolg beim Kampf um Rationalisierungsschutz.

Ein weiterer tarifpolitischer Schwerpunkt lag bei der "Aktion gerechte Eingruppierung". Damit erreichte die IG Druck und Papier deutliche Erfolge in der Bekämpfung der Frauenlohndiskriminierung. Ein besonderer Höhepunkt dieses Kampfes war Ende 1978 die Klage der 29 "Heinze-Frauen" aus der Firma Foto-Gruppe Heinze gegen ihren Arbeitgeber. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war ihre Forderung. Mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Kassel vom 9. September 1981 wurde dieses Ziel erreicht.

Die 35-Stunden-Woche

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung war die logische Folge der immer stärker digital bestimmten Zukunft. Arbeitszeitverkürzung war und ist das einzige den Gewerkschaften zur Verfügung stehende Instrument für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für den solidarischen Ausgleich zwischen Arbeitenden und Erwerbslosen, für die Einschränkung der Verfügungsgewalt der Unternehmer über die Arbeitskraft, für mehr Zeit zum Leben.

1977 hatte die IG Druck und Papier die Forderung nach der 35-Stundenwoche aufgestellt. Der Kampf um ihre Einführung, der mit den ersten Streiks 1984 begann, war der bis dahin längste und härteste Arbeitskampf in der Bundesrepublik. Hier ging es um mehr als eine Tarifforderung, hier wurde ein Machtkampf geführt: Sind die Gewerkschaften bei den weiteren ökonomischen und sozialen Entscheidungen noch beteiligt? Diesen Kampf haben IG Druck und Papier und IG Metall erfolgreich bestanden. In der Druckindustrie trat die 35-Stunden-Woche am 1. April 1997 in Kraft, in der Papierverarbeitung ein Jahr später. Inzwischen war die Mauer gefallen, der Kampf um die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Ost und West hatte begonnen.

ver.di und die gesamte Gewerkschaftsbewegung kämpfen heute in neuen Formen und neuen Bündnissen um "alte" Ziele: Arbeitszeitverkürzung, Einkommen, von denen Menschen leben können, Gerechtigkeit und Solidarität, Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft. Wie die Buchdrucker schon 1848 schrieben: "Alle müssen mit angreifen ... im wohlverstandenen Interesse nicht blos aller Buchdrucker, sondern auch der menschlichen Gesellschaft überhaupt."

ver.di feiert ein doppeltes Jubiläum

2016 jährt sich die Gründung der ältesten Vorgängergewerkschaft, der Buchdruckergewerkschaft, zum 150. Mal, ver.di wird im Juni 15 Jahre alt.

Am 20. Mai 1866 wurde der Deutsche Buchdruckerverband in Leipzig gegründet.

Zum Jubiläum am 20. Mai 2016 wurde in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin die Ausstellung über den gewerkschaftlichen Kampf für Demokratie und Menschenrechte eröffnet. Mit einer Jubiläumsveranstaltung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt in Berlin feiert der ver.di-Gewerkschaftsrat am 28. Juni 2016 mit zahlreichen Gästen eine trotz vieler Hürden und Rückschläge erfolgreiche Geschichte.

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