Ich, ken Loach

Der Regisseur des kleinen Mannes, Ken Loach, hat mit "Ich, Daniel Blake" einen Film über das Sanktionierungssystem der britischen Arbeitsämter gedreht, der die Zuschauer zum Weinen bringt und doch Hoffnung und eine Ahnung von Widerstand verströmt

Daniel Blake will sich nicht mit dem System abfinden, er kämpft um einen Rest Würde

Daniel Blake ist ein 50-jähriger kahlköpfiger Arbeiter mit verschmitztem Lachen und dem kräftigen Akzent aus Newcastle, wo er sein Leben lang als gelernter Schreiner gearbeitet und Steuern gezahlt hat. Sein Beruf macht ihn stolz und füllt ihn aus, seine Kollegen schätzen ihn, seine Frau macht ihn trotz ihrer Stimmungswechsel glücklich, und als sie krank wird, pflegt er sie liebevoll bis zu ihrem Tod.

Und nun setzt das Drama ein: Daniel erleidet einen Herzinfarkt und darf noch nicht wieder arbeiten. Aber: Aufgrund einer völlig unsinnigen telefonischen Befragung einer staatlicherseits ausgegründeten "Gesundheitsdienstleisterin" wird er für arbeitstauglich erklärt und ist somit nicht sozialhilfeberechtigt.

Ihm bleibt nichts anderes übrig, als gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen. Doch bis der durch einen ominösen und immer wieder nur abstrakt genannten "Entscheidungsträger" stattgegeben wird, muss er durch die Mühlen der Arbeitsagentur. Im örtlichen Jobcenter, das von Sicherheitspersonal bewacht wird, trifft er auf die alleinerziehende Mutter Katie und ihre beiden Kinder Daisy und Dylan. Er bekommt mit, dass ihnen das Geld um 40 Prozent gekürzt wird, weil sie den falschen Bus erwischt haben und zu spät zu ihrem Termin erschienen sind. Denn nachdem Katie sich bei ihrem Londoner Vermieter über die katastrophalen Zustände beschwert hatte, war sie kurzerhand rausgeworfen worden und muss nun in völlig fremder Umgebung und fernab der Familie versuchen, sich zurechtzufinden und über die Runden zu kommen.

In Daniel regt sich Widerstand, und er setzt sich für sie ein. Zwar umsonst - doch aus dieser Begegnung erwächst eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam versuchen sie, der brutalen Mühle einer absichtlich so programmierten Bürokratie zu entgehen, die beide zu zermalmen droht.

Die stummen Gesten

Und eben diese quälende Bürokratie ist es, die der neue Film des Regisseurs Ken Loach mit seinen objektiven, unaufgeregten Bildern so eindringlich zeigt. In einem Publikumsgespräch vor einigen Wochen in Berlin beschrieb Ken Loach die Kamera als "meine sympathisierende, verständnisvolle Beobachterin der Wirklichkeit". Alles zeigt sich ihr in den Gesichtern und stummen Gesten seiner stets unbekannten Schauspieler, viele von ihnen Laiendarsteller/innen aus dem Milieu.

Die zermürbenden Stunden in der telefonischen Warteschleife, der "Vivaldi-Hölle", wie Loach sagt, das Warten auf Rückrufe des bedrohlichen "Entscheidungsträgers", die leidlichen Versuche, Online-Fragebögen auszufüllen, obwohl man nie zuvor eine Maus in der Hand gehalten hat. Der lächerliche Bewerbungsworkshop, zu dem Daniel geschickt wird, um seinen Lebenslauf zu optimieren, um damit nach Jobs zu suchen, die es nicht gibt, und die er gar nicht annehmen darf, will er seine Berufung vor dem Sozialgericht nicht gefährden. Daniel Blake ist - wie so viele - gefangen in einem kafkaesken Kreislauf der Erniedrigung.

Man muss an Asterix und Obelix denken, wie sie auf der Suche nach dem Passierschein A39 unendliche Treppen erklimmen, hierhin und dorthin geschickt werden, während sich die Verantwortlichen seelenruhig von hübschen Mädchen auf der Schaukel anschubsen lassen. Doch für einen Daniel Blake hat die Gemeinschaft keinen Zaubertrank. Als er nicht nachweisen kann, dass er sich tatsächlich zu Fuß und unerlaubterweise analog um Jobs bemüht hat, wird er erneut sanktioniert und gerät ans Limit.

Längst seien die Arbeitsvermittler in den Jobcentern, so macht Loach klar, nicht mehr dazu da, den Menschen Arbeit zu vermitteln, sondern sie gezielt zu zermürben: "Wir haben bei unseren Recherchen Beweise dafür gefunden, dass von den Mitarbeitern der Jobcenter eine wöchentliche Sanktionierungsquote gefordert wird. Denjenigen, die nicht genug sanktionierten, wurde gesagt, sie müssten einen - und das ist schon fast orwellesk - ,persönlichen Verbesserungsplan' umsetzen, um besser darin zu werden, Menschen zu sanktionieren", erzählte Loach im Gespräch mit dem Publikum. Die Jobcenter-Mitarbeiter/innen in seinem Film haben alle selbst früher dort gearbeitet, sind aber alle wegen des unerträglichen Drucks gegangen. "Wir standen durch die Gewerkschaft in Kontakt, doch wir mussten sie anonym sprechen und durften sie auch nicht im Abspann erwähnen. Damit sie keine Sanktionen zu erwarten haben", sagt Loach.

Wie für alle seine Filme recherchierte Ken Loach gründlich in den Milieus. Für Ich, Daniel Blake, im Original I, Daniel Blake, entschied er sich gezielt für Newcastle mit seiner Tradition einer einst stolzen Arbeiterschaft. Übel stoße ihm schon lange die kontinuierliche Diskreditierung von Hilfebedürftigen auf, die durch die Politik bestimmt, dann durch die Boulevardmedien verbreitet werde. Niemand scheine sich zu scheren um diesen Hass gegen die Armen, denen man die Schuld an abgebauten Jobs als Schmarotzertum zuschiebt. Im Gegenteil, deren Schicksale würden zur Belustigung im britischen Nachmittagsprogramm in Comedy-Shows denunziert.

Starke, tragische Charaktere

Zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty reiste Loach bei der Recherche für den Film durch seine Heimat Nordengland und sprach mit den unterschiedlichsten Menschen; er sammelte ihre Geschichten und Geheimnisse, schaute in ihre Kühlschränke und besuchte Lebensmitteltafeln. Alle diese Geschichten sind in den Figuren Daniel und Katie zusammengeflossen und bilden derart starke, tragische Charaktere, dass bei den diesjährigen Filmfestspielen das Publikum in Cannes in Tränen lag. Für seinen Film bekam er zu Recht die Goldene Palme.

Daniel Blakes Geschichte nimmt einen gefangen, weil sie sich so wahr anfühlt. Loach schafft das vor allem dadurch, dass er die Geschichte auch für seine Schauspieler wahr werden lässt. Beim chronologisch geplanten Dreh erhielt niemand ein vollständiges Skript, sodass sich die Geschichte Stück für Stück entwickeln konnte. Das ging so weit, erzählt Loach, dass einige Szenen viel emotionaler wurden, als eigentlich geplant. Es gab Momente, die den Hauptdarsteller und Stand-up-Comedian Dave Johns völlig unerwartet trafen und ihm nahezu das Herz brachen, erzählt Loach.

Kritiker werfen Loach immer wieder vor, sich in den 50 Jahren seiner Arbeit als Regisseur politischer Filme stilistisch und inhaltlich kaum verändert zu haben, worauf er trocken erwidert: "Wieso sollte ich mich ändern, wenn es das System nicht tut?"

Und doch lässt sich das System ändern, sagt Loach. Ihm sei es wichtig, dass viele davon erfahren, dass Berufungsverfahren gegen Entscheidungen des Sozialgerichts doch oftmals von Erfolg gekrönt sind - wenn man den Weg bis zur Entscheidung erlebt. Es wüssten nur zu wenige, dass sie überhaupt Rechtsmittel dagegen haben, "und die schwinden dann einfach so dahin". Große Hoffnungen knüpft Ken Loach an die jüngsten Wahlerfolge des Labour-Chefs Jeremy Corbyn. Der werde dieses unmenschliche Sanktionierungssystem abschaffen, ist Loach sich sicher.

Der Brexit war für Loach zwar eine Wahl gegen die neoliberale Sanktions- und Sparpolitik, aber: "Es ist wichtig zu wissen, dass das keine Wahl gegen die Solidarität war. Wir müssen gegen den Neoliberalismus, gegen große Unternehmen, gegen die Zerstörung unserer Umwelt und die Attacken gegen die Arbeiterschaft zusammenstehen. Wenn wir nicht zusammenstehen, dann niemand. Erinnern wir uns an das alte Motto Educate, agitate, organize! (Bilde, agitiere, organisiere!) Und ein Hoch auf eine neue Europäische Linke!"

So kämpferisch verabschiedete sich der 80-jährige Loach aus Berlin. Er hatte nur 30 Minuten Zeit, um Fragen des Publikums zu beantworten. Dann musste er schnell zum Flughafen. Seit dem Brexit muss man an der heimischen Grenzkontrolle wieder stundenlang warten. Hoffentlich ohne Vivaldi.

I, Daniel Blake, GB/F/B 2016, Regie: Ken Loach, Darsteller: Dave Johns, Hayley Squires, Dylan McKiernan, 111 Minuten, Kinostart 24. November 2016


Der Sozialrealist

Ken Loach (80) gilt als Filmemacher des britischen Sozialrealismus. Der gelernte Elektriker bekam als Arbeiterkind ein Stipendium und studierte Jura in Oxford, schloss sich aber bald einer Theatergruppe an. Schon sein Sozialdrama Cathy come home (1966) machte ihn berühmt. Seither blieb er sich und seinem Thema treu und wurde zum Chronisten des kleinen Mannes und der kleinen Frau mit scharfem Blick auf die sozialen Realitäten seines Landes. Dem bekennenden Trotzkisten machte vor allem Margaret Thatcher mit Sendeverboten das Leben schwer. Er drehte Filme über den Bürgerkrieg in Nicaragua (Carla's Song), über die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen in Nordengland (Kes) und erhielt für The Wind that shakes the Barley über den irischen Freiheitskampf die erste Goldene Palme von Cannes.

I, Daniel Blake bescherte ihm nun eine weitere Palme.

"Wieso sollte ich mich ändern, wenn es das System nicht tut?"