Das Vorlesen für Flüchtlingskinder und das Lesen mit ihnen ist eine überraschende Erfahrung. Man lernt selbst einiges dazu

Damit das Gelernte nicht einrostet, üben Günter Keil und der siebenjährige Aram das Lesen in den Ferien. Besonders wichtig sind Aram auch bunte, große und verrückte Bilder

"Jetzt Du!"

"Nein, Du!"

"Wir hatten doch ausgemacht, dass Du ab hier liest!"

"Nö."

"Doch."

"Ich lese erst ab da. Bis dahin machst Du weiter."

Schon gut. Ich gebe auf, beuge mich Arams Willen und lese weiter. Der Siebenjährige aus dem Irak hat sich mal wieder durchgesetzt. Seinem sympathisch-frechen Grinsen, dem Schalk in seinen Augen und seiner schlauen Bestimmtheit, kann ich mich nicht widersetzen. Muss ich auch nicht. Schließlich ist es meine Aufgabe, Aram in den Ferien vorzulesen. Ehrenamtlich. Die Grundschullehrerin des Jungen hatte mich gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte: ein bisschen Lesen, Lernen, Buchstaben erklären, Aussprache üben. Prophylaktisch, damit Arams Deutsch nicht einrostet, wenn er zu Hause bei seiner jesidischen Familie hauptsächlich Kurdisch spricht.

Moment mal, jesidisch, kurdisch? Das waren einige der ersten Dinge, die ich durch Aram gelernt habe: Flüchtlinge aus dem Irak sind nicht zwangsläufig muslimisch. Das Jesidentum ist eine uralte Religion mit vielfältigen Einflüssen, auch aus Judentum, Christentum und Islam. Viele fundamentalistische Moslems hassen Jesiden - und verfolgen sie. Die Folge: Flucht. Mittlerweile leben rund 100.000 Jesiden in Deutschland. Sieben von ihnen sehe ich regelmäßig: Aram, seine vier Geschwister und die Eltern. Bei meinen Besuchen fällt mir auf, dass sie alle gerne lächeln. Und aus großen Augen strahlen. Vielleicht, weil sie die Erinnerungen an ihre Flucht vor zwei Jahren und ihre Zeit im Flüchtlingsheim lieber weglächeln. Vielleicht aber auch, weil sie sich ganz einfach freuen. Darüber, dass sie vor kurzem eine eigene Wohnung bekommen haben. Dass sie sich langsam an dieses komische neue Land gewöhnen. Dass sie diese komische neue Sprache immer besser verstehen. Und dass ein komischer Deutscher zu ihnen nach Hause kommt, um mit Aram zu lesen.

Am liebsten über Fußball und Autos

"Hallo! Was hast Du denn heute dabei?"

"Hier, guck mal. Drei neue Bücher..."

"Hm. Nichts mit Fußball?"

"Leider nicht. Beim nächsten Mal. Aber das hier ist mit Piraten."

"Au ja!"

Wie oft steckt der Buchstabe O in "Tooooooooor!"? Aram zählt nach

Aram ist höflich. Gut erzogen, wie man so sagt. Als wir uns zum ersten Mal treffen, hört er brav zu, nickt und liest - obwohl ihn die Inhalte und Illustrationen nicht begeistern. Je häufiger wir uns sehen, umso klarer macht er, welche Lektüre ihm zusagt: Bunte, große und verrückte Bilder sollten die Bücher haben. Und der Text sollte sich um Fußball und schnelle Autos drehen. Oder um Piraten. Auch Aufklapp-Elemente mag er. Action ist wichtig, es muss etwas passieren. Als die Limousine in Janoschs "Ein Regenauto zum Geburtstag" durch die Stadt rast und von der Polizei verfolgt wird, fiebert Aram begeistert mit. Als die Olchis in Erhard Dietls "Die Olchis werden Fußballmeister" auf dem matschigen Spielfeld einen 0 : 13-Rückstand in einen Sieg verwandeln, springt Aram vom Sofa auf und jubelt.

Ich begreife: Aram ist kein Flüchtlingskind, sondern ein Junge. Woher er kommt, spielt so gut wie keine Rolle. Denn seine Interessen sind universell. Auch seine Klamotten unterscheiden sich nicht von einem deutschen Siebenjährigen. Aram trägt am liebsten das Trikot des Fußballstars Ronaldo. Dazu mal eine Jeans, mal Jogginghosen. Mal ist er barfuß, mal trägt er gestreifte Socken. Dass er sehr gerne Pommes isst und Schokoladeneis schleckt, verwundert mich kein bisschen. Ausländer, Deutscher? Was sagt das schon über den Menschen aus? Aus dem Toooooooorjubel im Buch machen wir ein Spiel. Erst zählt Aram, wie viele "o" dort stehen - 23. Dann zähle ich laut mit, wie viele Sekunden lang er "Tooooooooor!" rufen kann, ohne abzubrechen. In den letzten zehn Minuten dieser Lesestunde wird nicht mehr gelesen, sondern nur noch gejubelt. Auch so lernt man eine Sprache, oder?

Das Kreuz mit den Umlauten

"E...i...m...e...r."

"Und wie spricht man das als ganzes Wort aus?"

"E...i...mer."

"Versuch Dich mal zu erinnern: wie war das mit dem e-i? Das hatten wir doch schon öfter..."

"...ah! Eimer!"

"Gut!"

Dass man "e-i" als "ei" ausspricht, vergisst Aram gerne. Vielleicht auch deswegen, weil er aus meinem Merkblatt, auf das ich Worte wie Eis, Eisenbahn, heiß oder fein geschrieben habe, einen Papierflieger gebastelt hat. "b" und "p" verwechselt er regelmäßig. Dafür ist er jedes Mal erfreut, wenn er "s...c...h" als "sch" identifiziert. Noch fällt Aram das Lesen schwer, er hangelt sich von Buchstabe zu Buchstabe, muss sich konzentrieren, reibt dabei seine Füße angestrengt aneinander. Das Sprechen klappt besser - weshalb Aram viel lieber spricht. Es klingt schon fast wie Hochdeutsch, er kann fließend erzählen und erklären. Wenn ich mit seiner Mutter rede, übersetzt er locker ins Kurdische.

Aber: Das Lesenlernen geht nur langsam voran. Was auch daran liegt, dass Aram und der Rest der Familie überwiegend Kurdisch sprechen, sobald ich die Wohnung verlasse. Muss das denn sein? Seine Geschwister können doch auch schon gut Deutsch. Aber seine Eltern eben noch nicht. Arams Mutter versteht nur bruchstückhaft die neue Sprache. Sein Vater besucht einen Kurs, wird langsam besser. Sich auf diesem niedrigen Level komplett auf Deutsch zu verständigen ist schwierig.

Mit Geduld und Spucke

Durch meine Besuche habe ich verstanden: Der Wunsch oder die Forderung, dass in Flüchtlingsfamilien gefälligst die neue Sprache gesprochen werden solle, ist unrealistisch. Es würde dem schnelleren Einleben dienen, zweifellos. Aber es ist nicht praktikabel. Ich stelle mir die Situation umgekehrt vor: Würde ich nach der Flucht in ein fremdes Land mit meiner Familie nur noch die neue Sprache sprechen? Natürlich nicht. Lernen würde ich sie. Und genau das tun Aram, seine Eltern und Geschwister. Wenn ich von ihnen zurück nach Hause gehe, bin ich jedes Mal glücklich und auch dankbar. Dass ich mit dazu beitragen kann, Literatur in Integration zu verwandeln.

Günter Keil ist Kulturjournalist, Literaturkritiker u. a. bei ver.di publik und Moderator. Er schreibt für zahlreiche Medien, betreibt einen Literaturblog und ist Mitglied in Literaturjurys. In seiner Freizeit arbeitet er ehrenamtlich für den Münchner Verein Lesefüchse, der Vorlese-Stunden in Schulen und Bibliotheken organisiert. Mitmachen kann jeder: Unter den Aktiven bei den Lesefüchsen und zahlreichen ähnlichen Initiativen befinden sich Berufstätige, Rentner und Studenten.

Informationen unter www.stiftunglesen.de oder www.netzwerkvorlesen.de