Beschäftigte der Fresenius Medical Care in Bogota (Kolumbien): In einem Raum mit geringster Konzentration luftgetragener Teilchen stellen sie Dialyse-Produkte her

Das Ende der zweitägigen Konferenz ist furios. Die Gewerkschafterin Cass Gualvez aus Kalifornien gibt den Ton an: „When we fight...“ „We win!“, schallt es laut und begeistert zurück. Mit einem rhythmischen Klatschlied nordamerikanischer Feldarbeiter beenden rund 60 Delegierte aus fünf Kontinenten Mitte Mai ihr Treffen in Frankfurt am Main. Eine gemeinsame Resolution besiegelt ein weltweit bisher einmaliges Bündnis von Arbeitnehmerorganisationen im Medizintechnik- und Gesundheitswesen. Alle Teilnehmer*innen sind Beschäftigte des multinationalen Konzerns Fresenius mit Hauptsitz im hessischen Bad Homburg und seiner Tochtergesellschaften. Vor allem die angereisten Gewerkschafter*innen aus den USA und Asien werfen der Firma mit rund 280.000 Beschäftigten in 100 Ländern und einem Jahresumsatz von über 33 Milliarden Euro „Union busting“ vor, die massive Behinderung von Gewerkschaften und Gewerkschaftsarbeit. Einzelne Angestellte würden brutal unter Druck gesetzt und Arbeitnehmerrechte systematisch unterlaufen.

Das Treffen wurde – parallel zur Fresenius-Jahreshauptversammlung auf dem Frankfurter Messegelände – von den Dachverbänden im Dienstleistungssektor, Public Services International (PSI) und UNI Global Union, koordiniert. Sie fordern von der Konzernleitung die Unterzeichnung einer global verbindlichen Rahmenvereinbarung (GFA). Die soll den Gewerkschaften Zugang zu den Betrieben, ungehinderte Arbeit, die Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards garantieren und ein Bekenntnis zu Tarifverträgen enthalten. Damit, so heißt es in der Resolution, sei der Grundstein für einen sozialen Dialog gelegt, der „gegenseitiges Vertrauen“ schaffen könne.

In Asien: Angriffe und Verleumdungen

Davon sei Fresenius, so vor allem Delegierte aus den USA und Asien, in ihren Ländern bisher meilenweit entfernt. Dong-Hee Joo aus Südkorea berichtet von viel zu niedrigen Gehältern, willkürlichen Budgetkürzungen, Verweigerung der gesetzlich vorgeschriebenen Zulagen und des Urlaubsgeldes, persönlichen Angriffen und Verleumdungen. Er selbst sei einem Lügendetektortest unterzogen worden. Die Behandlung sei entwürdigend und für ihn und seine Kollegen „emotional eine schwere Belastung“.

Gloria Flores aus Chile beklagt zahlreiche Verstöße in den Dialyse-Kliniken. Monopolist Fresenius spekuliere in ihrem Land auf die relative Ohnmacht der zersplitterten, kleinen Gewerkschaften, nutze Gesetzeslücken gnadenlos aus oder halte sich erst gar nicht an die geltenden Vorschriften. Sozialversicherungsbeiträge würden nicht gezahlt, Überstunden willkürlich geplant, Beschäftigte für „berufsfremde Arbeiten“ eingesetzt, Gewerkschafter behindert, schikaniert und „latent bedroht“. Die Vorwürfe scheinen schier endlos. Das Management verweise bei Beschwerden immer wieder auf den Klageweg. „Gerade in den Dialyse-Zentren“, so Flores, „haben wir eine riesige Verantwortung, aber zu wenig Geld.“

Ihre Kollegin, die Krankenschwester Sofia Spinoza aus Peru, berichtet, dass ihre Klinik vor drei Jahren von Fresenius übernommen worden sei: „Seither hat sich alles geändert. Die Grundrechte werden mit Füßen getreten!“ Es sei „ein riesiges Chaos entstanden“. Das gelte für alle Bereiche. Sie selbst sei persönlich verantwortlich für die Folgen eines Arbeitskampfes gemacht worden und habe Drohungen vom Management erhalten.

In Amerika: Patienten gefährdet

Der Medizintechniker Emerson Padua aus Kalifornien kämpft bei seinem Vortrag immer wieder mit den Tränen. Um seine Familie ernähren zu können, habe er jahrelang zwei Vollzeitjobs gemacht, drei Tage überwachte er die Dialyse-Apparate in der von Fresenius betriebenen Klinik und drei Tage andere Geräte in der Klinik eines Konkurrenzunternehmens. Das habe nicht nur ihm, sondern auch seinem Familienleben geschadet: „Ich konnte kein liebender Ehemann sein und kein guter Vater.“

Das drückte ihn, aber fast mehr noch belastete ihn die Verantwortung für die Dialyse-Patienten: „Ich habe sie leiden und sterben sehen.“ Die Menschen seien auch zu seiner Familie geworden: „Ich sehe sie vier Stunden, drei mal die Woche ihr Leben lang.“ Der ständige Druck und Stress seien für ihn viel zu groß gewesen: „Aber ich hatte keine Wahl, ich musste einfach immer weitermachen.“

Am Rande der Konferenz schildert Padua weitere Einzelheiten. Als Techniker leite er die Therapie ein, prüfe den Zustand von Patienten und Maschinen, überwache das Funktionieren und das An- und Abschalten der Geräte. Nebenbei habe er „alle möglichen Aufgaben erfüllen“ sollen, die seine Aufmerksamkeit abgelenkt hätten, als Hausmeister, bei der Reinigung und der Inventur: „Das führt dazu, dass ich die Patienten gefährde.“ Er sei dieses Risiko fälschlicherweise eingegangen, weil er sich irrtümlich „in Sicherheit“ gewiegt habe, dass wenigstens sein Arbeitsplatz sicher sei: „Da habe ich mich getäuscht.“ Das sei ihm klar geworden, als die Firma die Schichten kürzte, obwohl sie personell ohnehin schon ständig unterbesetzt waren: „Das Geld reichte nicht mehr zum Leben.“

2016 wurde er Gewerkschafter und machte seine Lebens- und Arbeitsbedingungen öffentlich. Nach seiner allerersten Rede sei er von einer Fresenius-Managerin beschimpft worden. Fresenius habe Spitzel angeheuert, um die Beschäftigten im Pausenraum zu belauschen. Die Belegschaft sei insgesamt „sehr eingeschüchtert und müde“. Hilfe und Solidarität erhofft er sich vor allem durch die europäischen Kollegen, damit die deutsche Konzernleitung die Resolution anerkenne und auch in seinem Land für deren Umsetzung sorge.

In Europa: keine Wertschätzung

Viele Delegierte loben die Arbeitsbedingungen in Europa, die erheblich besser seien als die in ihren Heimatländern. Dass aber auch in Europa nicht alles Gold ist, was glänzt, betonen Betriebsräte aus Spanien, Frankreich, Italien, aber auch Deutschland.

ver.di-Gewerkschaftssekretär und Aufsichtsratsmitglied Niko Stumpfögger sagt, spätestens da, wo Patienten gefährdet seien, sei auch der Aufsichtsrat gefordert, denn es könne dem Unternehmen dadurch „dramatischer Schaden“ entstehen. Daher sei er „zuversichtlich, dass Fresenius die Länderberichte ernst nimmt“. Stumpfögger sieht auch, dass die Bereitschaft zum Gespräch bei der deutschen Konzernleitung in den letzten zwei Jahren wieder gestiegen sei.

Alke Boessiger, stellvertretende Generalsekretärin von UNI Global, appelliert an die Versammelten, die Verstöße genau zu protokollieren. Es brauche belegte, konkrete Fälle, um die Konzernleitung unter Druck zu setzen. Fresenius verletze „durchgängig die Arbeitnehmerrechte“ und nutze weltweit „alle Gesetzeslücken“ aus. Sich dagegen zu wehren, dafür gebe es „nur eine kollektive Lösung“.

Angesichts der schweren Vorwürfe der Delegierten klingt der Text der einvernehmlich verabschiedeten Resolution, in der unter anderem Nichteinmischung des Managements bei der Organisation und Anerkennung von Gewerkschaften, deren freier Zugang zu Betrieben und ein schneller Streitbeilegungsmechanismus gefordert wurden, fast versöhnlich. Sie solle eben auch den Beginn eines Dialogs darstellen, „um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen und die Elemente der Zusammenarbeit zwischen Angestellten und Management zu optimieren“, sagt Boessiger.

„Gerade in den Dialyse-Zentren haben wir eine riesige Verantwortung, aber zu wenig Geld.“

Gloria Flores aus Chile