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Am 1. Mai 2020 wurden 15 leitende Funktionäre der Gewerkschaften in Istanbul festgenommenFoto: Kemal Aslan/ddp/abaca press

Es ist ein Dilemma. Nach drei Monaten Corona-Krise in der Türkei bleibt den Gewerkschaften im Land kaum mehr anderes, als das Elend zu dokumentieren. Seit die türkische Regierung Mitte März wesentliche Teile des Öffentlichen Lebens lahmgelegt und die Leute mit Ausnahme der Arbeiter*innen in der Produktion aufgefordert hat, zu Hause zu bleiben, steht fest: In den Fabriken, auf dem Bau und im Dienstleistungsbereich sind statistisch gesehen dreimal so viele Leute am Coronavirus erkrankt wie im Mittel der Gesamtbevölkerung. Und: Von Beginn der Krise an war absehbar, dass die Pandemie zusätzlich zu den bereits Millionen Arbeitslosen etlichen weiteren Beschäftigten den Job kosten würde.

Anders als in Deutschland gibt es für Beschäftigte in der Türkei kein Kurzarbeitergeld und auch reguläres Arbeitslosengeld erhalten nur die wenigsten. Wer in den Zwangsurlaub geschickt wird, bekommt in dieser Zeit in der Regel kein Geld, und wer seinen Job gleich ganz verliert, muss sich häufig mitsamt seiner Familie bei privaten oder staatlichen Lebensmittelspenden anstellen. Allein in der Provinz Urfa im Südosten der Türkei entlang der syrischen Grenze, dort, wo auch ein Großteil der knapp drei Millionen syrischer Flüchtlinge lebt, mussten sich zuletzt täglich 300.000 Leute für Lebensmittelspenden anstellen, berichtete hochoffiziell der Gouverneur der Provinz. Wie also mit der Krise umgehen? Hätten die Gewerkschaften gleich zu Beginn fordern sollen, die Beschäftigten von der Arbeit freizustellen, damit sie sich nicht anstecken, oder doch lieber dafür eintreten, dass die Produktion aufrechterhalten bleibt?

Festnahmen am 1. Mai

An Arbeitskämpfe war und ist in der Türkei nicht zu denken. Als sich der Dachverband der progressiven Gewerkschaften DISK wenigstens zum 1. Mai zu den Problemen der arbeitenden Bevölkerung etwas Gehör verschaffen wollte, wurden 15 leitende Funktionäre, darunter die DISK-Vorsitzende Arzu Cerkezoglu, festgenommen. Wegen angeblicher Verletzung der Abstandsregeln und der Ausgangssperre, die die Regierung für den 1. Mai verhängt hatte. Frustriert merkte Arzu Cerkezoglu nach ihrer Freilassung aus dem Polizeiarrest an: "Arbeiter müssen während der Corona-Pandemie weiterarbeiten, aber Feiern zum 1. Mai sind dann ein Verstoß gegen die Corona-Regeln."

Am 12. Mai veröffentlichte DISK schließlich einen Bericht zu den Auswirkungen der Pandemie für die arbeitende Bevölkerung. Schon vor Ausbruch der Pandemie waren mit 8,5 Millionen Arbeitslosen eine knappe Million Menschen mehr ohne Arbeit als im Jahr zuvor. Jetzt, so DISK, kommen noch einmal 2,5 Millionen Arbeitslose dazu. Und das sind nur die Zahlen, die reguläre Jobs betreffen. Zählt man die vielen prekär beschäftigten "Schwarzarbeiter" und die kleinen Selbstständigen dazu, die auf die Straße gesetzt wurden, kommen mehrere Zeitungen zum selben Zeitpunkt, also Mitte Mai, auf das doppelte, nämlich rund 5 Millionen neue Arbeitslose.

Es trifft die Ärmsten

Wie mittlerweile Untersuchungen weltweit gezeigt haben, treffen die Auswirkungen der Pandemie am massivsten die Ärmsten. So auch in der Türkei. Das Forschungsinstitut Metropoll stellte fest, dass rund 70 Prozent derjenigen, die sowieso nur den Mindestlohn oder sogar noch weniger verdienen (also zwischen 1.000 und 2.000 Lira, umgerechnet zwischen 150 und 250 Euro im Monat), ihren Job völlig verloren haben. Viele dieser Jobs werden nicht so schnell zurückkommen, denn die Türkei steuert entgegen ihren offiziellen Angaben in eine Rezession, und der Staat ist pleite. Ohne fremde Hilfe wird Ankara in den kommenden 12 Monaten seine Schulden wohl nicht mehr bedienen können.

Was dennoch da ist an Ressourcen, wird auf gleich drei Kriegsschauplätzen verpulvert. Koray Düzgören, ein gewerkschaftsnaher Journalist, listete Ende Mai empört auf, wo das Geld hingeht: Im Irak intensiviert die türkische Armee ihre Einsätze gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK, in Syrien hält die Türkei Grenzgebiete über viele hundert Kilometer besetzt und in Libyen finanziert sie syrische Söldner und liefert der Regierung in Tripolis, allen Waffenembargos zum Trotz, fast täglich neues Kriegsgerät, darunter bewaffnete Drohnen die pro Stück rund 4,5 Millionen Dollar kosten. 30 davon sollen in den letzten Wochen abgeschossen worden sein.

Angesichts der Misere können die Gewerkschaften nur dazu aufrufen, kommunale und private Hilfsaktionen zu unterstützen. Und selbst das wird von der Regierung bekämpft. Eine Sammelaktion für Bedürftige, die der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, schon im März ins Leben gerufen hatte, wurde vom Innenministerium mit der Begründung verboten, er habe von Ankara dafür keine Genehmigung. Das bereits gesammelte Geld wurde beschlagnahmt. Jetzt haben mehrere Kommunen eine Plattform gegründet, über die Bürger*innen, denen es noch etwas besser geht, Strom- und Wasserrechnungen der Ärmsten der Armen bezahlen können.

Die Plattformen sind ein großer Erfolg, der zeigt, dass viele Menschen zu solidarischem Handeln bereit sind. Und diese Bereitschaft wird auch die Gewerkschaften trotz aller Krisen in den kommenden Monaten am Leben erhalten.