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Allein in Europa sind 13.000 Textilunternehmen vom Aus bedrohtFoto: Heiko Sprecht/Laif

222.222 Unterschriften konnte die Initiative für ein Lieferkettengesetz, in der auch ver.di aktiv ist, Mitte Juli vermelden. Nahezu zeitgleich kündigten Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an, dass sie ein Lieferkettengesetz auf den Weg bringen werden. Nach einer ersten Umfrage im vergangenen Jahr unter in Deutschland ansässigen Unternehmen, hatte auch ihre zweite Umfrage nur ein beschämendes Ergebnis erbracht: Von 2.250 angeschriebenen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten konnten nur knapp über 20 Prozent darauf antworten, wie sie die Einhaltung der Menschenrechte und die in den Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgelegten sozialen Mindeststandards entlang ihrer globalen Lieferketten sicherstellen. Umgekehrt heißt das: Nahezu 80 Prozent der entsprechend großen Unternehmen ziehen blank, wenn es um Menschen- und Arbeitsrechte geht.

Hätte, hätte, Lieferkette ... Ja, es hätte es schon lange geben können, ein Lieferkettengesetz, das international agierende Konzerne für ihre gesamten Produktions- und Lieferketten in die Verantwortung nimmt. Und man muss auch nicht immer die verheerenden Katastrophen wie etwa die in Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan anführen – wo noch vor wenigen Jahren rund 1.500 Menschen beim Brand einer Fabrik und beim Einsturz eines Fabrikkomplexes ums Leben kamen –, um deutlich zu machen, dass bereits längst bevor wir uns ein T-Shirt, eine Hose, Jacke oder einen Mantel kaufen, etwas richtig schief läuft. Oder erwähnen, dass für die Schokocreme unserer Kinder immer noch viel zu oft Millionen andere Kinder vor allem in Ghana und der Elfenbeinküste in der Kakaoernte schuften und deshalb oft jahrelang ihre Familien nicht sehen. Oder, dass Kinder ab einem Alter von vier Jahren in Minen im Kongo Kobalt abbauen für unsere Handys und E-Autos.

Oder man muss es eben doch immer wieder erwähnen. Denn nicht zuletzt die Corona-Pandemie zeigt, wie ungeschützt die Arbeit dieser Kinder, Frauen und Männer am Beginn der Lieferketten ist, wenn die Ketten auseinanderbrechen, weil alles zum Stillstand kommt. Weil keine Autos und Smartphones mehr produziert, keine Textilien mehr genäht werden. Dort, am Ausgangspunkt aller Produkte, haben alle diese Menschen keinerlei Anspruch auf Corona-Hilfen. Keine Aufträge, keine Arbeit, kein Geld bedeutet für sie meist Hunger und Not.

Am Anfang der Kette

In Bangladesch ist die Produktion in den Textilfabriken inzwischen wieder angelaufen (s. ver.di publik 03_2020). Die Not der Näherinnen ist dadurch kaum kleiner geworden. Zehntausende Frauen haben ihre Arbeit dauerhaft verloren, weil die Textilindustrie ihre Produktionen runtergefahren hat. Auch in Europa werden dadurch viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Am 25. Juli meldete dpa, dass durch die Corona-Krise laut einer aktuellen Studie des Kreditversicherers Euler Hermes knapp 160.000 Arbeitsplätze in der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie bedroht sind. "Wir gehen davon aus, dass trotz der zahlreichen Unterstützungsmaßnahmen etwa 13.000 Unternehmen in Europa bis Ende 2021 verschwinden und damit rund 158.000 Jobs in der europäischen Textilindustrie in Gefahr sein dürften", sagte Ron van het Hof, der Deutschland-Chef von Euler Hermes der Nachrichtenagentur.

Am Anfang der Lieferkette werden es dann weitere zehn- oder hunderttausende Arbeitsplätze sein, die verschwinden werden. Arbeitsplätze, die bis heute immer noch eine Zumutung sind mit 10 bis 12 Stunden langen Arbeitstagen und einem Mindestlohn, der einer Näherin derzeit nur 85 Euro im Monat einbringt.

Gerd Müller ist seit sieben Jahren Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ziemlich genauso lange hat er versucht, die Unternehmen in Deutschland zu Selbstverpflichtungen zu bewegen, hat das "Textilbündnis" initiiert, den "Grünen Knopf" als Gütesiegel für faire Produktion ausgegeben. Nun muss er feststellen: Freiwillig verpflichtet sich nur eine Minderheit.

Am Ende der Kette

"Wieder einmal wird deutlich, dass einseitige Selbstverpflichtungen der Unternehmen nichts anderes als Täuschungsmanöver sind. Um die Rechte der Beschäftigten und die Menschenrechte in der Zuliefererkette zu sichern, sind rechtsverbindliche Gesetze und vor allem Tarifverträge mit den Gewerkschaften vor Ort zwingend notwendig", sagte Orhan Akman, Bundesfachgruppenleiter für den Einzelhandel bei ver.di, anlässlich der neuen Umfrageergebnisse, die Müller und Heil Mitte Juli bekanntgaben. In einer Resolution hatten sich ver.di, Betriebsräte und Beschäftigte bei H&M, Zara und Primark gleichzeitig mit den Näherinnen in den südasiatischen Textilfabriken solidarisiert. Sie alle unterstützen die Initiativen für ein Lieferkettengesetz.

Am Ende der Lieferkette hat sich längst die Mehrheit in Stellung gebracht. Ende Juni erhielt Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus einen Brief von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft. In ihm warnen der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor einer Überforderung der Firmen. In einem Interview mit der ARD sagte der stellvertretende DIHK-Geschäftsführer Achim Dercks: "Das Gesetz wäre auf jeden Fall ein Wettbewerbsnachteil für deutsche Firmen. Und zwar nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch innerhalb der EU."

Unerwähnt lässt der DIHK-Geschäftsführer, dass in einigen europäischen Ländern bereits Lieferkettengesetze existieren. England hat 2015 ein Gesetz gegen die "moderne Sklaverei" verabschiedet, französische Unternehmen sind seit 2017 verpflichtet, menschenrechtliche Risiken auch in Tochterunternehmen und entlang der Lieferkette zu identifizieren und zu verhindern, in den Niederlanden wurde im Mai 2019 ein Gesetz gegen den Umgang mit Kinderarbeit verabschiedet, in der Schweiz befindet sich aktuell ein Gesetzesentwurf zur Konzernverantwortung im parlamentarischen Verfahren, und auf europäischer Ebene hat der EU-Justizkommissar ein Lieferkettengesetz für 2021 angekündigt.

Mit einer Vorlage von Eckpunkten haben Müller und Heil jetzt den Weg frei gemacht für ein deutsches Lieferketten-gesetz. Für ein Gesetz, mit dem die Hoffnung wächst, dass Gewerkschaften und ihre internationalen Verbände weltweit die Arbeit ein Stück weiter sozial gestalten könnten. In Deutschland muss davon noch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) überzeugt werden. Die Initiative Lieferkettengesetz sammelt wieder Unterschriften, vielleicht werden es diesmal 444.444.

Unterschreiben auf lieferkettengesetz.de