Alle Hände fassen mit an
Alle Hände fassen mit anFoto: Christian A. Werner
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Wir packen's an
Sechs Hände schaffen mehr als zwei HändeFoto: Christian A. Werner
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Foto: Christian A. Werner

Am 1. September fiel in Leipzig der Startschuss für das Projekt "Haus der Selbstständigen" – ein anspruchsvolles Vorhaben. Hier sollen die Interessen von Solo-Selbstständigen gebündelt werden und eine zentrale Anlaufstelle für ihre Netzwerke und Verbände entstehen.

Am Eröffnungstag herrscht Gewusel in den hellen Büroräumen in der Leipziger Innenstadt, die noch nach Renovierung riechen: Möbelträger bringen Stühle, Bürocontainer, Konferenztische, Beamerleinwände. Im Raum nebenan berät Projektleiterin Gerlinde Vogl mit den frisch gebackenen Teammitgliedern Vesna Glavaski und Anne Röwer, wie sie ihre Schreibtische anordnen und die Räume aufteilen wollen. Alles soll so gestaltet werden, dass die sechs Angestellten des Projekts bestmögliche Arbeitsbedingungen haben.

Buchstäblich auf die letzten Minuten ist alles fertig geworden, damit die Arbeit im "Haus der Selbstständigen" (HdS) pünktlich beginnen kann. Dabei war das Projekt akribisch vorbereitet und lange zuvor beantragt worden; bereits im Mai lag die "Genehmigung zum vorzeitigen Projektstart" auf dem Tisch.

"Selbstständiges und solidarisches Handeln sollen an diesem Ort praktisch zusammenkommen können."
Vesna Glavaski, ver.di-Gewerkschaftssekretärin

Unterstützung – nötiger denn je

Doch es dauerte noch einmal drei Monate, ehe das verbindliche Bewilligungsschreiben vorlag. "Und dann musste alles ganz schnell gehen", erzählt Gerlinde Vogl. Das ist offenbar gelungen, aber viel Zeit bleibt auch jetzt nicht. Denn schon wenige Tage nach der Eröffnung will sich das sechsköpfige HdS-Team mit den Vertreter*innen der Projektpartner zu einer Kick-off-Veranstaltung in den neuen Räumen treffen und die ersten Arbeitsschwerpunkte diskutieren.

Die promovierte Arbeitssoziologin Vesna Glavaski, die als Gewerkschaftssekretärin für ver.di im HdS-Team mitarbeitet, freut sich auf spannende Aufgaben: "Was ich an der Idee des HdS schätze, ist der Versuch, auf der einen Seite die Selbstständigkeit als besondere Erwerbsform anzuerkennen und gleichzeitig ihre kollektiven Potenziale zu bündeln. Selbstständiges, auch unternehmerisches Handeln und solidarisches Handeln werden hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sollen an diesem Ort praktisch zusammenkommen können."

Soziologin Anne Röwer, die für das Projekt aus Erfurt nach Leipzig kommt, hat die Thematik schon bei der Stellenausschreibung getriggert: "Ich möchte mit meiner Arbeit beitragen, das Thema 'Gute Arbeit' auch für Solo-Selbstständige zu etablieren. Ziel muss es sein, diese Erwerbsform durch gute Rahmenbedingungen und soziale Absicherung anzu-erkennen. Dafür will ich mich einsetzen."

Träger des Projekts ist die INPUT Consulting, eine gemeinnützige GmbH mit enger Verbindung zu ver.di. Realisiert wird das Vorhaben gemeinsam von der Ludwig-Maximilians-Universität München (Institut für Soziologie), der Universität Kassel (Fachgebiet Wirtschaftsinformatik und Systementwicklung) und ver.di (Referat Selbstständige). Die Finanzierung des zweijährigen Projekts sichern in erster Linie Fördergelder des Programms "Zukunftszentren" des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Mit dem ESF-Bundesprogramm sollen die ostdeutschen Bundesländer gezielt dabei unterstützt werden, die großen Veränderungsprozesse zu bewältigen und vor allem sozial zu gestalten. Qualifizierung soll neu gedacht und erprobt werden – immer mit dem Ziel, die Selbstlern- und Gestaltungskompetenz zu fördern.

Denn Digitalisierung verändert die Tätigkeiten und Anforderungen in allen Berufen. Solo-Selbstständige sind durch diese Entwicklungen besonders gefordert, denn sie müssen eventuell notwendige Weiterbildungen, Neuausrichtung und Umorientierung selbst organisieren und finanzieren. Genau hier setzt das "Haus der Selbstständigen" an: In der Projektlaufzeit werden ein berufsübergreifendes Vernetzungs- und Bildungsangebot für Solo-Selbstständige und Plattformbeschäftigte sowie Beratungsmöglichkeiten zur Bildung von Interessengemeinschaften entstehen. Ziel ist es, Solo-Selbstständige und ihre Belange stärker in die öffentliche und politische Wahrnehmung zu rücken, ihre Vergütungssituation, soziale Sicherung und Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Gerade jetzt ist das nötiger denn je, denn Tausende solo-selbstständig Erwerbstätige wie Lehrkräfte, Medienleute, Künstler*innen und Kreative, Kioskbetreiber*innen oder Physiotherapeut*innen sind durch die Corona-Krise in eine tiefe berufliche und existenzielle Krise geraten: "Von der Vollzeit-Arbeit in die Grundsicherung – so tief ist der Fall der Betroffenen", weiß Projektleiterin Vogl. "Die Corona-Krise zeigt einmal mehr, wie fragil die wirtschaftliche Basis vieler Solo-Selbstständiger ist und wie schlecht sie in die sozialen Sicherungssysteme eingebunden sind."

Das HdS-Team wird in enger Zusammenarbeit mit seinen Partnern die Inhalte des Projekts gestalten. In einem ersten Schritt wird es Kontakte zu relevanten Institutionen und Organisationen in Leipzig und der Region aufbauen, Bedarfe erfragen und im Dialog mit ihnen an Lösungsansätzen und Angeboten für die Zielgruppe arbeiten. Die vier am HdS angestellten Arbeitssoziologinnen werden verschiedene Befragungen entwickeln und Daten rund um die Arbeitswelt Solo-Selbstständiger sammeln. Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse ist als nächster Schritt der Aufbau einer digitalen Plattform für Solo Selbstständige und Crowdworker*innen geplant.

Rückenwind – nicht nur von ver.di

Von Anbeginn war ver.di treibende Kraft für das HdS und ihr Vorsitzender, Frank Werneke, gehörte zu den ersten, die zum Start des HdS-Projekts gratulierten. "Mit der gewerkschaftlichen Organisierung von Solo-Selbstständigen haben wir Pionierarbeit geleistet. Mit 30.000 solo-selbstständigen Mitgliedern ist ver.di heute ihre größte Interessenvertretung in Deutschland. Wir können und wollen unser Knowhow in das Projekt einbringen – so kann es auf unseren praktischen Erfahrungen aufbauen, sie gezielt erweitern und erproben", so Werneke.

Neben ver.di kann das HdS auf Unterstützung und wohlwollende Begleitung durch relevante Organisationen und Institutionen setzen. Das Rationalisierungs- und Innovationszentrum der deutschen Wirtschaft e.V. Kompetenzzentrum, kurz: RKW, ostdeutsche DGB-Landesverbände, der linke Wirtschaftsverband OWUS oder die gemeinnützige Social Impact GmbH sandten in der Antragsphase Unterstützerschreiben – so genannte "letter of intend". Und auch die Stadt Leipzig stellte sich ohne Zögern hinter das Projekt. Oberbürgermeister Burkhard Jung betonte in seinem Schreiben die "Potentiale und Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt zur Entwicklung und Erprobung neuer Formate der digitalen Vernetzung und Bündelung von Interessen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit" von Solo-Selbstständigen und sicherte Hilfe bei standortspezifischen Fragestellungen zu.

Gerlinde Vogl geht mit ihrem Team voller Elan an die Arbeit: "Wir freuen uns auf den Austausch und die Zusammenarbeit mit möglichst vielen Stakeholdern aus diesem Bereich, um mit ihnen gemeinsam und solidarisch an der Verbesserung der Situation von Solo-Selbstständigen zu arbeiten."