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Nur wenige Flüchtlingskinder haben einen sicheren Ort zum LernenFoto: Jesco Denzel/laif

Inmitten von Krieg und Konflikten gerät Bildung oft in den Hintergrund. Denn erst einmal geht es einfach ums nackte Überleben. Doch auch in den Ankunfts- und Aufnahmeländern ist oftmals nicht ausreichend für Schulbildung gesorgt. Nicht einmal jedes zweite Kind im schulfähigen Alter, das aus seiner Heimat fliehen musste, kann eine Bildungseinrichtung besuchen, meldet das UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in seinem jährlichen Bildungsreport.

Bildung ist Menschenrecht. "Das Recht jedes Kindes auf Bildung muss unabhängig von Migration oder rechtlichem Status erfüllt und geschützt werden", betont Parmosivea Soobrayan, Mitarbeiter des UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Das Kinderhilfswerk fordert Regierungen, Gemeinden und den Privatsektor auf zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass Flüchtlings- und Migrantenkindern wesentliche Dienstleistungen – einschließlich hochwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung – zur Verfügung gestellt werden.

Bildung ist unverzichtbar, um Flüchtlingen Hoffnung und Würde zu geben, betonen Hilfsorganisationen weltweit. Sie sei Voraussetzung dafür, sich für die eigenen Rechte einzusetzen und sich im solidarischen Einsatz für grundlegende Rechte anderer zu engagieren. Bildung sei also entscheidend, um Geflüchteten zu helfen, sich eigenständig eine bessere Zukunft aufbauen zu können.

"Wir müssen in die Bildung von Flüchtlingen investieren oder wir zahlen den Preis."
Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi

"Wir versagen gegenüber den Flüchtlingen, wenn wir ihnen nicht die Möglichkeit geben, sich mit für ihre Zukunft wichtigem Wissen und Fähigkeiten auszustatten", sagt der Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. Die Aufnahmeländer und neuen Heimatländer der geflüchteten Kinder und Jugendlichen müssten dringend handeln, und das auch in ihrem eigenen Interesse. "Wir müssen in die Bildung von Flüchtlingen investieren oder wir zahlen den Preis: Eine Generation von Kindern, die dazu verdammt ist, in ihrem späteren Leben abhängig zu sein, keine Arbeit zu finden und ihre Gemeinschaft nicht bereichern zu können", mahnt der UN-Diplomat.

Das Kinderhilfswerk UNICEF fordert dringend größere Anstrengungen, "um die Ursachen von Gewalt und Armut zu beseitigen, die überhaupt erst zur Vertreibung führen", so Soobrayan, der Berater für Bildung des UNICEF-Regionalbüros für Europa und Zentralasien ist.

Es gab noch nie so viele Geflüchtete

Die Fakten sind eindeutig: Die Anzahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute, meldet die UNHCR in ihrem aktuellen Jahresreport. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt, spitzt sich immer mehr zu. Ende 2019 waren weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Im Vergleich zum Vorjahr sind das fast neun Millionen Menschen mehr. 40 Prozent der Geflüchteten weltweit sind minderjährig, zahlreiche von ihnen im Kindesalter. Viele von ihnen sind ohne Familienangehörige unterwegs und somit komplett auf sich allein gestellt.

Die weltweit größte Anzahl registrierter Flüchtlinge lebt nach Angaben der UNICEF in der Türkei: Bis Ende Juni 2020 waren es knapp vier Millionen Geflüchtete und Migranten. Fast 3,6 Millionen von ihnen sind Syrer – darunter mehr als 1,6 Millionen Kinder. Über eine Million von ihnen sind im schulpflichtigen Alter. "Bis zum vergangenen Januar waren in der Türkei weit über die Hälfte der Kinder in eine formelle Bildungsanstalt eingeschrieben", sagt UNICEF-Mitarbeiter Soobrayan. "Mehr als 400.000 Kinder im schulpflichtigen Alter bleiben jedoch außerschulisch." Die COVID-19-Pandemie habe die Herausforderungen beim Zugang zu Bildung für schutzbedürftige Kinder massiv verschärft, so Soobrayan.

Denn auch wenn die Flüchtlings- und Migrantenkinder bereits die Hürde genommen hatten und in eine Schule gingen – die Corona-Pandemie macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. "Der Zugang zu Bildung aus der Ferne während der Pandemie ist für Flüchtlings- und Migrantenkinder schwieriger, weil sie oft nicht über die erforderliche technische Ausrüstung verfügen, um die Online-Kurse besuchen zu können", so Soobrayan. Auch wenn sie ein Gerät zur Verfügung haben, gebe es durch Sprachschwierigkeiten und andere Barrieren, wie zum Beispiel Traumata, größere Hemmschwellen als im persönlichen, direkten Kontakt mit den Lehrer*innen.

Viele Minderjährige legen alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Europa. Sie riskieren ihr Leben und verlassen die Türkei. Ihr Weg führt sie über das Meer oder durch den Fluss Evros nach Griechenland – das populärste Ziel auf der Flucht nach Europa. In Griechenland leben mittlerweile weit über 40.000 geflüchtete Kinder. Es kommen weitere Kinder und Jugendliche an – immer öfter sind sie allein unterwegs. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen um über 60 Prozent angestiegen.

Jahrelanges Ausharren in Flüchtlingscamps

"In den meisten europäischen Ländern ist der Schulbesuch für Kinder unter 18 Jahren verpflichtend, und im weltweiten Kontext sind die Zahlen der Kinder, die in Europa Bildung erhalten, auch aufgrund der Ländergesetzgebung gut", sagt Karen Mets, Referentin für Migrationspolitik im EU-Büro von "Save the Children". Doch viele Kinder sitzen aufgrund schleppender Asylverfahren fest. Sie müssen oft über Jahre hinweg in einem der Flüchtlingscamps oder in Wohnungen, die von Hilfsorganisationen gestellt werden, auf den griechischen Inseln ausharren, ohne zu wissen, was mit ihnen passiert. "Sie fallen oft durchs Bildungsraster", so Mets. "Der Zugang zu Bildung, wie eben auf den griechischen Inseln, ist begrenzt, weil es einfach an Ressourcen und Kapazitäten fehlt und die Bewegungsfreiheit der Kinder durch die laufenden Asylverfahren eingeschränkt ist."

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation auch hier nochmals verschärft. "Viele Asylregistrierungen in ganz Europa sind auf Eis gelegt worden", berichtet die Save the Children-Referentin. Das habe zahlreichen Familien und Kindern auch den Zugang zu Bildung verwehrt, auf die sie der Registrierung nach Anspruch hätten.

Auch auf psychologischer Ebene hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf die Kinder, die sich in der neuen, oft nur provisorischen Heimat nach Normalität und Alltag sehnen. "Die sozioökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, der Abbruch des Lernens und das Fehlen einer persönlichen Interaktion mit Gleichaltrigen dürften sich weiter nachteilig auf die Bindung und das Wohlbefinden der Kinder auswirken", so Parmosivea Soobrayan. Außerdem, so fügt er hinzu, würden diese ohnehin katastrophalen Lebensbedingungen durch die Gefahr des Corona-Virus noch einmal verschärft, das Leben der Geflüchteten sei bedroht.

Im Rahmen der beschlossenen Präventionsmaßnahmen gegen das Corona- Virus wurden mehrere Camps zeitweise unter Quarantäne gestellt. Doch in den überfüllten Zeltlagern ist es größtenteils nicht möglich, die Abstandsvorgaben einzuhalten. Zudem ist der Zugang zu Wasser, Hygieneprodukten und Gesundheitsversorgung sehr beschränkt. Es geht also vorerst – trotz überstandener Flucht – auch in Europa für tausende Menschen wieder erst einmal nur ums nackte Überleben.