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Innerhalb eines Monats haben sich wegen Corona die Videosprechstunden verhundertfachtFoto: Patrick Allard/REA/laif

Immer weniger Arztpraxen sind telefonisch erreichbar, zunehmend können Termine nur noch über die Internet-Plattform Doctolib vereinbart werden. In ­wenigen Monaten hat das französische Start-up den deutschen Markt der ­medizinischen Online-Buchung erobert. Für die Ärzte sind die Vorteile ersichtlich. Gegen monatliche 129 Euro werden sie von administrativen Aufgaben entlastet, sie können passende Neupatienten übermittelt bekommen und zudem lästige Terminausfälle reduzieren: Drei unentschuldigte Versäumnisse, und der Zugang zur Plattform wird gesperrt.

Für die Patienten jedoch ist ein Gewinn weniger erkennbar. Freilich wird wie immer bei Online-Diensten die Möglichkeit hochgepriesen, die Buchung rund um die Uhr erledigen zu können. Wiegt aber diese Befreiung von Sprechzeiten die Unmöglichkeit auf, außerplanmäßige Akutfälle direkt zu melden? Mit einem Computerprogramm lässt sich nicht wie mit der vertrauten Sprechstundenhilfe sprechen, übrig bleibt dann nur der unan­gemeldete Gang zur Sprechstunde mit unabsehbaren Warteschlangen oder ein Anruf beim medizinischen Notdienst. Es ist zu befürchten, dass mit der durch­optimierten Terminverwaltung der Arztpraxen viele Behandlungen unnötig auf die ohnehin überforderten Notaufnahmen verlagert werden.

Diagnose per Videosprechstunde

Mit der Corona-Pandemie kam für Doctolib zudem der große Aufschwung. Plötzlich wurde die effiziente Steuerung der Patientenflüsse zur gesundheitspolitischen Priorität. Vor allem konnte die ­Firma die zweite und wichtigere Sparte ihrer Aktivität ausbauen: die Videosprechstunde. Auf diesem noch unterentwickelten Feld ist der Wettbewerb mit anderen Anbietern wie Teleclinic oder Jameda hart, doch hat Doctolib als führender Vermittler zwischen Ärzten und Patienten einen Vorteil.

Als Zusatz zu physischen Sprech­stunden können Videoberatungen durchaus hilfreich sein, als Ersatz dafür sind sie hingegen fragwürdig, angefangen mit der Gefahr von Fehldiagnosen.

Binnen eines Monats hat sich die Zahl der Videosprechstunden aus Angst vor einer Ansteckung beim Praxisbesuch verhundertfacht! Auch wurde die Regelung zur Fern­behandlung bis vorerst Jahresende gelockert. Überdies entschied der Doctolib-Chef, für die Dauer der Corona-Krise die Kosten des Dienstes auf sich zu nehmen. Dahinter steckt weniger Menschenliebe als vielmehr Kalkül: Über die Notlage hinaus sollen Mediziner*nnen von den Vorteilen der Plattform überzeugt werden. Nach der Probezeit werden sie dann 79 Euro pro Monat zu zahlen haben.

Damit die Notlösung zur Normalität wird, ist in der Tat viel Überzeugungs­arbeit nötig. Als Zusatz zu physischen Sprechstunden können Videoberatungen durchaus hilfreich sein, als Ersatz ­dafür sind sie hingegen fragwürdig, angefangen mit der Gefahr von Fehldiagnosen. Zur Erkennung einer Krankheit gehört die körperliche Wahrnehmung des Patienten. Wie ein Arzt der Le Monde Diplomatique sagte: „Wie ­wollen Sie auf einem Bildschirm die tatsächliche Farbe eines Rachens erkennen?“

Datenklau nicht ausgeschlossen

Problematisch ist auch die Sicherheit der Daten. Online ausgetauscht werden ja hochsensible, intime Informationen, und die sind eine potenzielle Goldgrube für Händler, Dienstleister oder Werbeagenturen. Und momentan fehlen noch jegliche gesetzlichen Rahmenbedingungen. Doctolib versichert zwar, strenge Datenschutzrichtlinien zu verwenden und keine Patientendaten an kommerzielle Anbieter zu verkaufen. Nur zeigt die Erfahrung, wie vor lauter Aussichten auf Riesengewinne die ethischen Grundsätze digitaler Monopole schwinden und schwinden. Zudem: Nicht auszuschließen ist der Klau von gehackten Patientendaten.

Um ein kostenfreies Rezept zu erhalten, mussten die Videopatienten bislang ­immer noch in die Praxis kommen. Ab diesem November wird jedoch auch ­dieses letzte Hindernis aufgehoben; ­Rezepte dürfen fortan elektronisch ausgestellt werden. Ohnehin wird Tele­medizin von vielen Seiten und mit zum Teil dubiosen Argumenten gefördert. Die Verbraucherzentrale vzbv behauptet ­etwa, dass dadurch „die Chancengleichheit zwischen Stadt und Land“ verbessert werde. Da aber hochqualitative Daten­netze auf dem Land noch längst nicht ausreichend sind, könnte die Ungleichheit zwischen Stadt und Land eher noch wachsen.

Um an einer Sprechstunde teilnehmen zu können, benötigt der Patient oder die Patientin ein Smartphone oder einen Computer mit Kamera, Mikrofon, Lautsprecher, die entsprechende App, eine leistungsstarke Internetverbindung und nicht zuletzt die Fertigkeiten, um die Technik zu bedienen. Davon werden insbesondere sozial schwache und ältere Menschen ausgeschlossen. So wird das bereits existierende Gesundheitssystem der zwei Geschwindigkeiten noch verstärkt. Wie Homeoffice und virtueller Unterricht gehören Videosprechstunden jener Zukunftsvision einer Welt bar jeden Kontakts und jeder menschlichen Wärme an. Für manche Konzerne mag eine solche Welt profitabel sein, gesundheitsfördernd ist sie nicht unbedingt.