ver.di publik: Knapp 7 Millionen Menschen in Deutschland gelten laut dem aktuellen Schuldneratlas als überschuldet. Rund 700.000 Menschen haben durch die Corona-Krise ihren Job ver­loren, bis zu 7,3 Millionen Menschen ­waren oder sind in Kurzarbeit. Verschärft Corona das Schuldenproblem?

HERMANN-JOSEF TENHAGEN: Ja, natürlich, für diejenigen, die jetzt weniger Einkommen haben, vor allem auch für Freie und Selbstständige, die jetzt deutlich weniger verdienen als vor der Krise.

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Hermann-Josef TenhagenFoto: picture alliance

ver.di publik: Laut einer Umfrage von Creditreform Wirtschaftsforschung Ende August sind 37 Prozent der Haushalte durch die Pandemie finanziell schlechter gestellt. 28 Prozent befürchten, bald in Zahlungsschwierigkeiten zu geraten. Ist das noch vermeidbar?

TENHAGEN: Die Haushalte selbst, aber auch die Politik können eine ganze ­Menge tun. Das vielleicht wichtigste Instrument finanziell ist das Wohngeld. Seit Anfang 2020 können Haushalte es einfacher beantragen, auch solche mit etwas höheren Einkommen. Aktuell können es noch mehr Menschen bekommen, weil sie durch Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit deutlich weniger Geld haben. Der Vorteil: Du musst es nicht zurück­zahlen. Entscheidend ist, wie viel Einkommen da ist und wie viel für die Miete aufgebracht werden muss. Wenn dieses Verhältnis nicht gut ist, gibt es schnell 100 oder 200 Euro Zuschuss zum Wohnen. Wir haben bei Finanztip eine kleine Anleitung zum Antragausfüllen. Im Zweifel kann man auch zu einem Sozialverein, dem Mieterverein oder zur

Kommune selbst gehen und sich dort helfen lassen. Einen ersten Hinweis darauf, ob Wohngeld fließen könnte, bekommst du im Internet. Berlin hat einen Wohngeld­rechner ins Netz gestellt, den man auch außerhalb Berlins gut nutzen kann. Wenn da steht 50, 100 oder 150 Euro, dann solltest du den Antrag unbedingt stellen. Und wenn ich dann schon mal dabei bin, kann ich gleich auch noch eine Kinderzulage beantragen. Die gibt es nämlich auch in dieser Einkommens­situation – wieder sozusagen geschenktes Geld, bis zu 185 Euro pro Kind, ab ­Januar bis 205 Euro.

ver.di publik: Wo kann noch gespart werden?

TENHAGEN: Wenn’s eng wird, solltest du alle deine Verträge durchgehen, beispielsweise die Autoversicherung. Der Großteil der Versicherer sagt, wenn du wegen Kurzarbeit weniger Kilometer gefahren bist, als wir im Vertrag vereinbart haben, dann kann das bei vereinbarten 15.000 Kilometern, aber tatsächlich nur 10.000 gefahrenen Kilometern, 10 Prozent der Versicherungssumme einsparen. Viel sparen lässt sich auch im Bereich Energie und Handyverträge. Ein Wechsel des Stromanbieters kann für eine Familie Einsparungen von 150 bis 200 Euro im Jahr bringen. Oder wenn ich einen Handyvertrag zwischen 25 bis 30 Euro habe, aber einen von 10 Euro bekommen kann, spart das gleich 15 bis 20 Euro im Monat.

ver.di publik: 11 Prozent aller Haushalte haben in den vergangenen Monaten Ratenzahlungen laufender Konsum-, ­Immobilien- oder Autokredite gestundet, was gesetzlich bis zum 30. Juni möglich gewesen ist. Sollte die Regelung erneuert werden?

TENHAGEN: Ja, und auch verlängert. Aber das Stunden sollte nicht die erste Wahl sein. Weil Stunden bedeutet, ich muss hinterher nachzahlen. Und das Ziel sollte nicht sein, einen Schuldenberg anzuhäufen, an dem ich später ­scheitere. Es gibt allerdings Bereiche, da schadet das Stunden weniger, etwa bei Lebens- oder Rentenversicherungsverträgen. Die kann man eine Zeitlang beitragsfrei stellen, und wenn man nicht nachzahlt, hat man am Ende vielleicht drei oder fünf Euro weniger Rente. Das ist leichter verkraftbar, als jetzt Schulden anzuhäufen. Die Miete zu stunden ging ja auch schon für einige Monate. Aber erstens werden auch Mietschulden verzinst, und zweitens habe ich dann auch einen Schuldenberg, der abgetragen werden muss. Da kann es sinnvoll sein, mit dem Vermieter zu reden, ob man nicht wenigstens einen Teil der Miete ­bezahlt.

ver.di publik: Ist die Verbraucherin­solvenz eine Alternative?

TENHAGEN: Wenn der Schuldenberg nicht mehr zu tragen ist, ja. Bevor es zur Katastrophe kommt, ist die Privatinsolvenz vernünftig. Das bedeutet aber auch, dass man über Jahre mit etwa 1.000 Euro pro Monat auskommen muss – das nicht pfändbare Einkommen, plus eventueller Zuschläge für Kinder oder Angehörige. Wichtig ist, die Schulden auf wenige Gläubiger zu konzentrieren. Im Idealfall hat man nur die Bank als Gläubiger und nicht noch drei Einzelhandelsketten, bei denen man noch etwas abbezahlen muss. Und: Vor allem mit dem Vermieter gilt es immer getrennt Kontakt aufzunehmen, weil die Wohnung zu gefährden, ist das, was man überhaupt nicht will.

ver.di publik: Laut dem Schuldneratlas stehen rund zwei Millionen Freiberuf­ler*innen und Solo-Selbständige vor der Überschuldung. Ist hier nicht auch der Staat gefragt, der vielen von ihnen die Möglichkeit zu arbeiten gekappt hat?

TENHAGEN: Es gibt sehr viele Selbst­ständige, die von der Hand in den Mund leben. Und in der Tat ist es eine politische Entscheidung gewesen, dass Gastronomie und Kulturschaffende, die Solo-Selbstständigen, für uns als Gesellschaft die Kastanien aus dem Feuer holen. Die sollen nämlich nicht arbeiten dürfen, ­damit wir anderen weiterarbeiten und unsere Kinder in die Schule schicken ­können. Und natürlich ergibt sich aus so einer Entscheidung eine besondere ­Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die einigermaßen heile durchkommen. Im Frühjahr hat der Staat kein Einkommen für diese Menschen vereinbart, sondern nur versprochen, Kosten von Firmen­strukturen zu bezahlen. Der wichtigste Kostenpunkt eines Selbstständigen ist aber sein eigener Unterhalt. Inzwischen sind wir da bei einer Lösung, nach der 75 Prozent vom Umsatz des letzten ­Jahres oder des Vorjahresmonats gezahlt werden soll. Das ist auch ein Eingeständnis, dass man den Eigenunterhalt der Selbstständigen würdigen muss. Die Idee mit den Steuerberatern, die die ­Hilfen für Selbstständige beantragen müssen, ist dabei leider nicht zielführend. Die Steuerberater haben gerade unglaublich viel zu tun mit ihrer klassischen Klientel, und so manchen Solo-Selbstständigen macht es nicht fröhlich, wenn er jetzt 150 Euro für die Stunde von einem Steuerberater für die Beantragung von Hilfen berechnet bekommt. Und es hilft ihm auch nicht.

ver.di publik: Noch einen Tipp?

TENHAGEN: Bei Finanztip beschäftigten wir uns tatsächlich viel mit den Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmern und haben dazu auch einen guten Ratgeber erarbeitet. Aber es gibt gerade auch für die Solo-Selbstständigen im ­Kulturbereich bei ver.di FAQs, die sehr, sehr hilfreich sind, und die wir auch immer wieder empfehlen.

Interview: Petra Welzel