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Lea Herzig, 28, ist Historikerin und promoviert mit der Förderung eines Stipendiums der Hans-Böckler-Stiftung an der TU BerlinFoto: Privat

ver.di publik: Letztes Jahr hat die israelische Gewerkschaft Histadrut ihren 100. Geburtstag begangen. Was ist von ihr heute noch geblieben?

Lea Herzig: Die Histadrut hinterließ in Israel so einige Spuren, man kann bis heute nicht durch Tel-Aviv gehen, ohne ihr zu begegnen. Man muss aber wissen, dass die Histadrut lange keine Gewerkschaft nach unserem deutschen Verständnis war. Bis in die 1990er Jahre vertrat sie nicht nur etwa 70 Prozent aller Erwachsenen in Israel, es waren auch etwa 30 Prozent bei ihr selbst beschäftigt. Die Histadrut war Arbeitnehmervertretung und einer der größten Arbeitgeber, zu ihr gehörten die Unternehmen der Gemeinwirtschaft. Heute sieht man in Tel-Aviv Filialen der Bank HaPoalim, Sportstadien des Verbands Hapoel, und gerade in der Pandemie schauen viele auf die Krankenkasse Clalit. Sie alle waren einmal Unternehmen der Hist-adrut. In den 80ern gab es dann tiefgreifende Veränderungen in der israelischen Wirtschaft, denen die Gemeinwirtschaft zum Opfer fiel. Und die Histadrut musste sich neu erfinden. Heute ist sie mehr ein Dachverband wie der DGB, mit einzelnen Branchengewerkschaften. Was sicherlich geblieben ist, ist der Wille, immer das Beste für alle Mitglieder und Arbeitnehmer*innen in Israel herauszuholen, mit demselben Elan, mit dem sie 1948 den Staat Israel mitgegründet hat.

ver.di publik: Du bist schon einmal im Zusammenhang des deutsch-israelischen und gewerkschaftlichen Jugendaustausches in Israel gewesen. Dieses Mal hat der Austausch online stattgefunden. Was hast du daraus mitgenommen?

Herzig: Was deutlich wurde, ist, dass sich das Land in den vergangenen Jahren nochmal grundlegend verändert hat. Soziale Proteste, auch gegen die Regierung Netanyahus, haben zugenommen, das sieht man auch an den Wahlergebnissen, die eine Koalitionsbildung schwierig machen. Gleichzeitig konnte die Histadrut mit den Protestierenden auch wichtige Verbesserungen durchsetzen, Systeme wie etwa das Kurzarbeitergeld wurden geschaffen. Und die sicherheitspolitische Lage im Nahen Osten hat sich verändert, ein Frieden mit den Emiraten war noch vor Kurzem undenkbar.

ver.di publik: Gibt es Gemeinsamkeiten in der Arbeit der Gewerkschaftsjugend, oder haben israelische Jugendliche andere Probleme?

Herzig: Es gibt Gemeinsamkeiten, junge Menschen stehen vor ähnlichen Problemen, wenn es um die Finanzierung ihres Studiums geht, um unbezahlte Praktika oder prekäre Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor. Da ist die NOAL, die Gewerkschaftsjugend, aber schon recht gut aufgestellt. Und zum Beispiel in der Start-Up-Branche scheint mir dort schon mehr zu passieren als bei uns.

ver.di publik: Was kann oder soll euer Austausch bewegen?

Herzig: Der Austausch kann zuerst dafür sorgen, dass sich junge Gewerkschafter*innen aus zwei Ländern besser kennenlernen, deren Geschichten so eng miteinander verbunden sind. Es geht auch darum, die Erinnerung an deutsche Verbrechen und jüdische Opfer wach zu halten und aufzuzeigen, dass Israel als einziger jüdischer Staat der Welt zur Not der letzte Rückzugsort für Juden sein wird. Aber es geht natürlich auch darum, sich in Bezug auf gewerkschaftliche Taktiken auszutauschen, ein klassischer Wissenstransfer auf Augenhöhe. Und dann kann es während so einer Woche in Israel auch einfach nur mal darum gehen, mal richtig gute Falafel zu essen.

Interview: Petra Welzel