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Samstag, 11. September 2021, Braunschweiger Innenstadt: Es ist ein spätsommerlicher Tag, und in der Fußgängerzone bummelt gefühlt die halbe Stadt, Jung und Alt, Familien mit Kindern, Cliquen, Freundinnen. Schaufensterpuppen tragen riesige T-Shirts, auf denen Sale steht, auf viele Schaufenster ist das Wort Sale geklebt. Vor rund 20 Jahren hieß das noch Sommerschlussverkauf. Was sich offenbar nicht geändert hat, ist die Lust auf ein Schnäppchen für den nächsten Sommer. Nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie mit mehreren Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Ladenschließungen, drängt sich aber auch ein anderes Gefühl auf: Der sogenannte stationäre Einzelhandel ist gegenüber dem seit der Krise weiter wachsenden Online-Handel zurück. Die Menschen gehen wieder shoppen. Probieren verschiedene Schuhe und mehrere Kleidungsstücke an, lassen sich beraten und nehmen das neue Lieblingsteil auch gleich mit.

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Quelle: Statistisches BundesamtGrafik: ver.di

Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes und des Handelsverbands Deutschland (HDE) belegen das. Die Umsätze des Einzelhandels sind seit dem Finanzkrisenjahr 2009 stetig gestiegen. Zuletzt bezifferte das Bundesamt den Umsatz im Einzelhandel mit rund 600 Milliarden Euro. Und auch der HDE verzeichnet steigende Umsätze, für dieses Jahr wird ein Wachstum von mindestens 1,2 Prozent vorausgesagt. Lediglich im vergangenen Corona-Krisenjahr waren die Umsätze um ein knappes Prozent zum Vorjahr 2019 zurückgegangen.

Höhere Löhne dringend nötig

Was sich an diesem späten Samstagnachmittag in Braunschweig nicht bemerkbar macht, ist die seit dem Frühjahr anhaltende Tarifrunde im Einzel- und Versandhandel sowie Groß- und Außenhandel. Seit Monaten streiten die weit über fünf Millionen Beschäftigten im Handel im Wesentlichen für 4,5 Prozent mehr Geld plus einen monatlichen Festbetrag von 45 Euro. Es steht den überwiegenden Verkäuferinnen in den Läden nicht auf der Stirn geschrieben, dass sie oftmals nur in Teilzeit arbeiten, viele haben auch nur einen Minijob. Lohnsteigerungen benötigen sie dringend. Aber mehrheitlich arbeiten sie nicht einmal unter tariflichen Bedingungen. "80 Prozent der Unternehmen im Einzel- und Versandhandel sind nicht mehr tarifgebunden", sagt Orhan Akman, der in der ver.di-Bundesverwaltung für den Einzel- und Versandhandel zuständig ist. Einfache Tarifrunden im Handel habe es noch nie gegeben, sagt er, aber die anhaltende Flucht aus der Tarifbindung mache jede Runde schwieriger.

"Jetzt ist klar, dass die Wertschätzung letztes Jahr nur geheuchelt war. Nichts wird umgesetzt. Wenn wir keinen Abschluss oberhalb der Preissteigerungen, der Inflationsrate bekommen, sind bei uns Existenzen bedroht."
Jörg Jäger, Stahlgruber

Dabei ist in den meisten Handelsunternehmen genug Geld vorhanden. "Der Lebensmittelhandel hat während der Pandemie Umsatzzuwächse von bis zu zehn Prozent gehabt", sagt Akman. Amazon konnte seine Umsätze um über 40 Prozent steigern und der Otto-Versand um mehr als 20 Prozent. Nur bei den Beschäftigten kommt von diesen Zuwächsen kaum etwas an. Amazon, Otto, Rewe, IKEA und einige wenige andere große Unternehmen haben zwar die Löhne ihrer Beschäftigten um 2 bis 2,5 Prozent und die Schwarz-Gruppe mit Kaufland und Lidl um 3 Prozent erhöht, aber erstens liegt das immer noch deutlich unter der ver.di-Forderung sowie der aktuellen Preissteigerungsrate von 3,8 Prozent und zweitens ist keine dieser Erhöhungen tariflich abgesichert. "Hinzu kommt", sagt Akman, "dass sich die Gewinner der Krise hinter den angeblichen Verlierern verstecken." Der ver.di-Sekretär glaubt nicht, dass viele Unternehmen mit Corona in eine wirkliche Krise gerutscht sind. "Angenommen, die These stimmt, dass der Handel mit Textilien und Non-Food gelitten hat, dann muss man festhalten, dass die Unternehmen zwanzig Jahre lang Gewinne eingestrichen, aber nur einen Bruchteil an die Beschäftigten weitergegeben haben", so Akman.

Wenn der Laden laufen soll

Samstag, 4. September 2021, Berlin, Friedrichstraße: In einem Fachhandel für Staubsauger kümmern sich zwei Verkäuferinnen um die Handvoll Kund*innen, die nahezu gleichzeitig in den Laden kommen. Keine Online-Bewertung könnte es mit der kompetenten Beratung der Verkäuferinnen aufnehmen. Bis ins letzte Detail erklären sie die Staubsauger, für die sich die Kund*innen interessieren. Und überzeugen. Neben dem medizinischen Personal werden auch die Verkäufer*innen seit Beginn der Corona-Krise als systemrelevant, als unverzichtbar eingestuft. Selbst die Bundeskanzlerin bestätigte ihnen mehrfach, sie hielten "den Laden am Laufen", auch wenn Angela Merkel damit im Wesentlichen die Verkäufer*innen im Lebensmitteleinzelhandel meinte. Doch die Verkäufer*innen im Einzelhandel genauso wie die Beschäftigten im Großhandel machen selbst keine Unterschiede zwischen sich. "Wir machen alle dieselbe Arbeit", sagt Katharina Wlodarczyk, die in einer Kaufland-Filiale arbeitet. Deshalb hätten auch alle dasselbe verdient. Die einen verkaufen Lebensmittel, die anderen Mode, wiederum andere eben Staubsauger, und die Beschäftigten im Großhandel liefern alle Waren aus.

"Wir machen alle einen harten Job. Ich möchte einfach, dass sich mein Arbeitgeber mit an den Verhandlungstisch setzt. Wir wollen einen verbindlichen Tarifvertrag und seine Allgemeinverbindlichkeit. Das liegt mir sehr am Herzen."
Katharina Wlodarczyk, Kaufland

Wir Kund*innen nehmen diese Dienstleistungen als ganz selbstverständlich hin, auch, dass die Frauen, die die Mehrheit der Beschäftigten im Einzelhandel stellen, nur wenige freie Wochenenden im Jahr haben. Sie sind es, die jeden Ärger der Kund*innen abbekommen. Seit Beginn der Krise und Einführung der Maskenpflicht vergeht kaum ein Tag im Berufsleben der Verkäufer*innen, an dem sie nicht Kund*innen freundlich dazu auffordern müssen, bitte eine Maske zu tragen, oder die Maske, die am Kinn hängt, richtig aufzusetzen. Die Kunden seien aggressiver geworden, sagt Katharina Wlodarczyk.

"Mir ist ganz wichtig, dass man uns nicht spaltet. Wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Aber es darf keine Zwei-Klassen-Gesellschaft im Handel geben. Das wäre der Anfang vom Ende im Handel."
Marion van Holt, IKEA

Wie wichtig der Handel ist, wie wichtig es ist, dass tagein tagaus Waren aus den großen Lagern in die kleinen und großen Geschäfte und Supermärkte ausgeliefert, in den Läden in Regale geräumt oder auf Ständern aufgehängt und schließlich an Kassen abkassiert werden, wird uns immer erst dann bewusst, wenn der Laden nicht mehr läuft. Sei es, weil er geschlossen wurde, sei es, weil er dieser Tage bestreikt wird. Am 21. September wird in Nordrhein-Westfalen, im größten Bundesland, zum sechsten Mal verhandelt. "Die Handelsunternehmen haben für alles Geld, für Preiskriege, sie öffnen einen Laden nach dem anderen, nur die Beschäftigten bekommen nichts", sagt ver.di-Sekretär Akman. Es brauche deshalb mehr als streikende Beschäftigte. "Wir müssen den Handel regulieren, die Politik muss die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (s. Kasten ganz unten) wieder einführen und die Innenstädte stärken." Kurzum: Im Handel muss gehandelt werden. Mehr zur aktuellen Tarifrunde unter verdi.de/themen/geld-tarif/ tarifrunde-handel-2021

Die 3 wichtigsten Fragen und Antworten

Was fordert ver.di in der Tarifrunde Handel?

Hauptanliegen von ver.di im Einzel- und Versandhandel ist es, die Löhne und Gehälter um 4,5 Prozent und um 45 Euro zu erhöhen. Mit Blick auf eine Mindestabsicherung im Alter wird als nächster Schritt auch ein tariflicher Mindestlohn von 12,50 Euro pro Stunde gefordert und die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge (s. Kasten unten zur AVE). Die Auszubildenden sollen in der Regel 100 Euro mehr im Monat bekommen. Für den Groß- und Außenhandel ist die Spannbreite der Forderungen anders. Sie bewegen sich zwischen 4,5 Prozent plus Festbetrag und 6 Prozent, wobei alternativ Festbeträge bis zu 199 Euro gefordert werden. In Sachsen sollen die Arbeitgeber 1 Euro mehr pro Stunde zahlen.

Haben die Unternehmen im Handel genug Geld?

Das Jahr 2020 war im Handel nicht nur online ein Rekordjahr: Trotz mehrerer Lockdowns hat der Einzel- und Versandhandel den Gesamtumsatz deutlich gesteigert. Es war das elfte Wachstumsjahr in Folge. Die Erlöse lagen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes real um knapp vier Prozent höher als 2019; im Großhandel waren es immerhin noch 1,8 Prozent. Und auch für das Jahr 2021 ist die Bilanz bisher positiv. Darin steckt Rekordarbeit, die in großen und kleinen Geschäften, in Versandzentren, Lägern, auf LKWs sowie in Büros geleistet wird.

Warum müssen die Löhne im Handel steigen?

Die Angst vor Altersarmut ist unter den Beschäftigten im Handel sehr groß, weil ihre Einkommen hinten und vorne nicht reichen. Dass den Beschäftigten im Handel tatsächlich Altersarmut droht, untermauert eine Studie aus dem Frühjahr, laut der jede zweite Verkäuferin in Nordrhein-Westfalen nur einen Niedriglohn bezieht, unter anderem auch, weil viele nur in Teilzeit arbeiten. Dumping prägt bereits weite Teile des deutschen Einzel- und Versandhandels, angefacht durch die anhaltende Tarifflucht. Inzwischen sind rund 80 Prozent der Betriebe im Handel nicht mehr an die Flächentarifverträge gebunden.

Allgemeinverbindliche Tarifverträge

Eine wichtige Forderung in den Tarifrunden im Einzel- und Versandhandel sowie im Groß- und Außenhandel ist die nach der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge (AVE). Die müssten auch die Arbeitgeberverbände im Handel beantragen, was sie jedoch seit Jahren verweigern.

Angefangen hat alles vor gut 20 Jahren: Damals ermöglichten die Arbeitgeber-verbände Handelsunternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Die Folge: Die Unternehmen begannen, aus der Tarifbindung auszusteigen. Laut dem ver.di-Fachbereich Handel sind aktuell nur noch rund 22 Prozent aller Betriebe an Branchen- oder Haustarifverträge gebunden. Angesichts dieses Wertes fordert ver.di vom Gesetzgeber, die Einführung der AVE zu erleichtern.

Anfang September lud ver.di Vertreter*innen von fünf Bundestagsfraktionen zu einem Symposium, bei dem die Vorzüge einer AVE diskutiert wurden: Wären die Tarifverträge im Handel wieder allgemeinverbindlich, müssten sich alle Betriebe daran halten, auch wenn sie dem Arbeitgeberverband nicht oder ohne Tarifbindung angehören. Dumpinglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen könnten gestoppt, die Wende hin zu tariflicher Entlohnung sowie allgemeinverbindlich geregelten Arbeitszeiten, Urlaub und vielem mehr eingeleitet werden. gg