Kolektif Istanbul: Kismet

Im Jahr 2005 kam der französische Saxophonist und Klarinettist Richard ­Laniepce für einen dreimonatigen Aufenthalt nach Istanbul. Nun lebt er noch heute in der Bosporus-Metropole, wo er gleich zu Beginn eine ungewöhnliche Band gründete. Das französisch-türkische Kolektif Istanbul sagt von sich selbst, es mache „moderne Hochzeitsmusik“. Musik also in der langen und reichen Tradition türkischer und balkanischer Party-­Musik.

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Im Fall dieses Sextetts aus Istanbul allerdings betont urban, sehr groovy und mit dem unverstellten Blick der Kosmopoliten. Mit einem Mix aus traditionellen Instrumenten der Region, aber auch Keyboards und Schlagzeug und einem Sousaphon als funky Bass, überrascht die Band mit unerwarteten Kombinationen. So nutzt sie unter anderem eine klassische Vorlage wie das Thema von „In der Halle des Berglöwen“ aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite, um es dann in einen unwiderstehlichen Orient-Groove zu überführen. Ein intelligenter Spaß, den auch die Teilnehmer*innen der ersten, noch friedlichen Demonstrationen im Istanbuler Gezipark zu schätzen wussten, wenn das Kollektiv dort aufspielte. Peter Rixen

CD/LP/DL Trikont/Indigo

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Xenia Rubinos: Una Rosa

Wer nicht glaubt, dass man Identitätspolitik zum Klingen bringen kann, der sollte sich vielleicht einmal das neue Album von Xenia Rubinos anhören. Die Eltern der amerikanischen Musikerin stammen aus Kuba und Puerto Rico, zuhause liefen Merengue und Salsa friedlich neben klassischer westlicher Musik, später studierte Rubinos im kulturellen Schmelz­tiegel New York Jazz-Komposition – all das ist zu hören auf Una Rosa. Mal ist die 36-Jährige Rubinos eine Klangforscherin, die versucht, traditionelle lateinamerikanische Klänge mit der im Computer geschaffenen Moderne in Einklang zu bringen. Dann ist sie wieder einfach bloß eine Jazz-Instrumentalistin oder vielleicht auch eine Folkloremusikerin, die sich in den Weiten eines moosweichen Boleros verliert. Ein anderes Mal entführt sie uns auf den Dancefloor eines angesagten Clubs in einer westlichen Metropole wie Berlin – oder ist einfach mal Shakira. Dieser faszinierende Zickzack-Kurs führt sie in ­moderne HipHop-Segmente wie Trap oder Drill und in die Klangkunst, in den Mainstream-Pop und in die elektronische Avantgarde. Selbst durch eine relativ konventionell wirkende Ballade wie Worst Behavior wehen noch irritierende Harmonien, als wollte sie beweisen, dass man Pop nur weit genug denken muss, um die ganze Welt wenn schon nicht zu versöhnen, dann doch wenigstens zu verbinden. Thomas Winkler

CD, Anti/Indigo

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Moritz Krämer: Die traurigen Hummer

Die traurigen Hummer kommen auf diesem Album recht fröhlich daher: mit plätschernden Melodien, trägem Synthesizer, ab und zu einer Ukulele und dann wieder mit dramatischen Streichern erzeugen sie eine zufriedene, zurückgelehnte Stimmung, wie auf der Rückfahrt nach einem sonnigen Tag am See. Aber dann singt Moritz Krämer mit heiserer Stimme: „Endlich dürfen sie sterben, die Hummer.“ Wie gewohnt sucht er nach dem Schönen im Traurigen und verknüpft die Leichtigkeit mit Schwere. Erzählt Geschichten voll abgeklärter Melancholie – von Wut, Freiheit, Sinn und Unsinn, Geld, Kindern, Gefühlen und ihrer aller Kommen und Gehen. Nachdem Krämer in seinem letzten Soloprojekt wortgewandt über Verträge monologisierte und 2019 ein weiteres Album mit seiner Band „Die Höchste Eisenbahn“ veröffentlicht hat, erscheint nun mit den traurigen Hummern sein drittes Soloalbum, das thematisch weniger bürokratisch, dafür umso feinsinniger und zerbrechlicher ausgefallen ist.

  • Feline Mansch

CD, Tapete Records/Indigo