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In den USA verbreitet sich zurzeit eine mysteriöse Epidemie namens Big Quit: die größte Kündigungswelle, die das Land jemals erfahren hat. Jeden Monat verabschieden sich über 4 Millionen Arbeitnehmer von ihrem Boss, Tendenz steigend. Darüber rätseln die Experten: In wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie heute klammern sich in der Regel Menschen an ihrer Stelle fest. Aber mit Covid-19 ist manch eine Regel außer Kraft gesetzt worden. Sicherlich sind nicht alle Kündigungen ganz freiwillig: Wenn Schulen geschlossen bleiben, haben alleinerziehende Mütter keine andere Wahl. Besonders betroffen ist die Hotel- und Gastronomiebranche, wo sich auf die üblichen Beschwerden das Gesundheitsrisiko addiert. Nur reicht das nicht, um das Ausmaß des Phänomens zu erklären. Auch viele Dienstleistungsangestellte, die während der Lockdowns von Zuhause aus arbeiteten, wollen nicht mehr ins Büro zurück. Die Berichterstattung darüber scheint einen solchen Schneeballeffekt ausgelöst zu haben, dass Big Quit von manchen als eine Art Generalstreik erklärt wird (überdies hat parallel dazu im Oktober die Zahl der Streiks in den USA längst vergessene Höhen erreicht).

In der Tat geraten jetzt die Arbeitgeber unter Druck, zumal die Mehrheit, die den Job noch nicht hingeschmissen hat, laut Umfragen schon überlegt, es in kommender Zeit zu tun. Was ist passiert? Psychologen vermuten, dass viele eine "Corona-Erleuchtung" hatten. Im Lockdown hatte man plötzlich Zeit, über Werte und Sinn der eigenen Existenz zu reflektieren und welche Rolle die Arbeit dabei spielt. Gefragt über ihre Motive, erwähnen Betroffene Geld nur an zweiter Stelle. An erster Stelle stehen Work-Life-Balance und Stressabbau. Wer nicht zu sehr verschuldet ist und etwas Erspartes hat, nimmt eine Auszeit im Kauf.

Erstaunlicher aber noch: Aus China wird ein ähnlicher Trend gemeldet. Unter dem Begriff Tangping, "Flachliegen", verbünden sich junge Menschen, um gegen Leistungsdruck, Burnout und Perspektivlosigkeit still zu protestieren. Sie lassen ihre Arbeit ruhen und tun nichts. Auf sozialen Netzwerken ist die Bewegung sehr populär. Und in Deutschland? 6 Prozent der Beschäftigten haben ihren Job gekündigt, mehr als in anderen europäischen Ländern. Überall scheint das Motto zu lauten: Aufhören, innehalten, nachdenken. Und womöglich suchen nach der verlorenen Zeit. Guillaume Paoli