Tocotronic.jpg
Foto: GLORIA ENDRES DE OLIVEIRA

Tocotronic: Nie wieder Krieg

Man kann von Ina Müller halten, was man will, aber mitunter hat sie schon recht. Noch bevor Tocotronic ihre neue Single vor der Fischer-Kneipe, in der ihre Sendung „Inas Nacht“ aufgezeichnet wird, spielen durften, seufzte die Gastgeberin: „Das Lied ist so schön.“ Tatsächlich ist Ich tauche auf eine Ballade zum Dahinschmelzen, und das eher gesetzte Publikum spendete begeisterten Applaus.

Tocotronic_cover_Nie_wieder.jpg

Tocotronic sind einen weiten Weg gegangen vom Underground-Geheimtipp zum Talkshow-Rahmenprogramm, von Hamburg nach Berlin, vom Rumpel-Rock mit Punk-Attitüde zum fein ziselierten Poeten-Pop, mit dem sie die großen Hallen füllen. Das neue, Ende Januar erscheinende Album Nie wieder Krieg stellt nun den Versuch dar, diese Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Vor allem ist es ein gelungenes Kunststück, ganz bei sich zu bleiben und doch dieser Gesellschaft den Puls zu fühlen.

Zartes wie Ich tauche auf oder Ein Monster am Morgen stehen als Kontrapunkt zu Stücken wie Leicht lädiert und Komm mit in meine freie Welt, in denen Tocotronic die Gitarren von der Leine lassen. Dazwischen finden sich dann wieder eingängige Popsongs wie Nachtflug oder Crash. So unterschiedlich die Stile sind, sie spiegeln doch auch die Zerrissenheit dieses Landes, aus dessen angegriffener Psyche die Texte berichten, ohne das explizit so zu benennen.

Die Verse bleiben immer im Ungefähren, freuen sich an ihrer eigenen poetischen Unschärfe, und doch ist ihr 13. Album das politischste, das Tocotronic je gemacht haben. Ihre Kunst ist es, dabei keine Parolen zu schwingen, auch wenn es der Albumtitel anzudeuten scheint. Stattdessen singt Texter Dirk von Lowtzow „Ich hasse es hier – und mich dafür“, er analysiert eine „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“. Es geht um Vereinzelung und um Verzweiflung, um die Feinde in einem selbst, um die Flucht aus den Zuständen, um Menschen, die morgens aufwachen und sich fühlen, als ob ihnen „der Tod ins Herz geschrieben wird“. Und man denkt, das Album hätte besser geheißen: Deutschland im zweiten Corona-Winter. Aber es gibt noch Hoffnung, wird im gleichnamigen Lied behauptet, auch wenn die Lösung nicht sonderlich originell ist. Liebe heißt der Song, der das Album abschließt, und in dem Lowtzow verspricht, dass die sogar gegen den Hass hilft. Ja, es ist ein Hippietraum, aber ein sehr schöner. Thomas Winkler

Vertigo Berlin/Universal

shirin-david-bitches-brauchen-rap.jpg

Shirin David: Bitches Brauchen Rap

Shirin David ist derzeit überall: Sie hat einen eigenen Eistee, ein eigenes Parfum, sie ist Werbegesicht für einen Lebensmittellieferanten und promotet Unterwäsche für kurvige Frauen. Sie tritt zur Primetime in einer Promi-Spielshow an, war zwischenzeitlich auf Platz 1 der deutschen Albumcharts und mit jedem einzelnen Song ihres zweiten Albums in den deutschen Top 50 des Streaming-Riesen Spotify. Man erahnt das Spannungsfeld, in dem sie sich bewegt. Zwischen Musik und Kommerz, Kunst und Künstlichkeit. Noch dazu kommt: Shirins Körper und Gesicht sind operiert, ihre Fotos retuschiert, ihre Songs schreiben Ghostwriter. Doch sie reflektiert all dies klug in ihrer Musik und schafft es, die Widersprüche in einem erfolgreichen Gesamtbild aufzulösen. Als selbstbestimmte Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich in einer Männerwelt durchsetzt, unter demonstrativem Einsatz ihres Körpers. Und sie lässt sich dafür nicht anmachen. Sie rappt auf Bitches Brauchen Rap gekonnt über Feminismus und Weiblichkeit, Wut und Unsicherheit und ihre Rolle als Frau im Hip-Hop-Geschäft – und ist damit ganz oben angekommen. Feline Mansch

Universal Music, zu streamen auf allen Plattformen

MUSIK_bellaciao.jpg

Bellaciao Project: A Sud Di Bella Ciao

1964 fiel im Städtchen Spoleto mit dem Bellaciao-Projekt, das sich rund um den berühmten Partisanen-Song rankt, der Startschuss zu einer Neuorientierung der italienischen Folk-Bewegung. Ein Ereignis, das die Szene nachhaltig beflügelte. Denn statt romantisch verklärter Liedchen gab's nun handfeste Botschaften. Damals teils polemisch beschimpft, heute ein Klassiker. 2015 runderneuert, tourte die Bühnenshow, die auf dem Ur-Projekt aufbaut, quer durch Europa. Die zeitgemäße Fortführung des wegweisenden Projektes geht mit A Sud Di Bella Ciao in die zweite Runde. Diesmal mit den Freiheitsbotschaften zumeist traditioneller Arbeiter- und Partisanenlieder aus Italiens Süden. Die klingen angesichts nach wie vor ungelöster sozialer Fragen und globaler Herausforderungen ungemein aktuell. Wieder dabei: herausragende Sängerinnen wie Elena Ledda und Lucilla Galeazzi. Dazu als musikalischer Leiter der Akkordeonist und Musikethnologe Riccardo Tesi. Sein Banditaliana genanntes Quartett bringt neben den fantasievollen Arrangements den ein oder anderen Weltmusik-Einfluss ein, der Bella Ciao seinen universalen Charakter verleiht.Peter Rixen

CD Visage Music/Galileo