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Foto: Anne Bierstedt

"Oft versuchen wir nur noch dafür zu sorgen, dass niemand stirbt," sagt Lisa Einzmann. Die Krankenschwester ist seit drei Jahren in der Notaufnahme eines großen Berliner Krankenhauses beschäftigt. Häufig arbeitet sie in unterbesetzten Schichten. Wie kürzlich in dieser Spätschicht, in der sie gemeinsam mit zwei weiteren Pflegekräften für 68 Patient*innen zuständig war. Etwa 40 dieser Patient*innen waren ernsthaft krank oder verletzt, zehn von ihnen befanden sich in einer lebensbedrohlichen Situation, erzählt Lisa Einzmann. Eine Person musste reanimiert werden. "Solche Situationen sind schwer händelbar." Bei einer Reanimation seien mindestens zwei Pflegekräfte gleichzeitig anwesend. Und zwar mindestens eine halbe Stunde. Für die Versorgung und Betreuung der restlichen 67 Patient*innen, darunter mehrere in Akutsituationen, blieb in dieser Zeit also nur noch eine Pflegekraft.

"Wir müssen ständig entscheiden, wem wir zuerst helfen. Im schlimmsten Fall, wen wir zuerst retten," sagt Lisa Einzmann. "Die Zustände sind untragbar." Zum Vergleich: Auf Intensivstationen liegt die gesetzlich vorgeschriebene Personaluntergrenze tagsüber bei zwei Patient*innen pro Pflegekraft, nachts ist eine Besetzung von 3:1 vorgesehen.

"Über 90 Prozent der Befragten gaben an, dass es in ihrer Rettungsstelle täglich zu Patienti*innengefährdungen komme."
Lisa Einzmann , Krankenpflegerin / Gründerin "Notaufnahmen retten"

Das Personal in ihrer Rettungsstelle arbeite ständig über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus, so die 34-Jährige. Und nicht immer seien ausreichend technische Kapazitäten vorhanden, um zum Beispiel die Vitalzeichen aller Patient*innen zentral zu überwachen. "Aufgrund der viel zu dünnen Personaldecke kommen Patient*innen zu Schaden und versterben in der Folge manchmal auch," sagt die erfahrene Krankenschwester. "Das darf in der Notaufnahme aber nicht passieren."

Traurige Realität – bundesweit

Und genau deswegen ist Lisa Einzmann aktiv geworden. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Kolleg*innen hat sie Anfang des Jahres die "Aktion: Notaufnahmen retten" ins Leben gerufen, die Beschäftigte bundesweit vernetzen will. Die Idee dazu entstand aus der Berliner Krankenhausbewegung heraus. In einem harten Konflikt setzten die Beschäftigten von Charité und Vivantes dort letztes Jahr gemeinsam mit ver.di Tarifverträge für mehr Personal und Entlastung durch. Das Besondere: Erstmals konnte auch für die überlasteten Notaufnahmen eine Personalbemessung erzielt werden.

"Vor dem Tarifkampf dachten wir alle, dass nur in unserer jeweiligen Notaufnahme die Unterbesetzung und unsere Frustration darüber so schrecklich wären," sagt die aktive Gewerkschafterin. Die Vernetzung der Beschäftigten in den Notaufnahmen von Vivantes und Charité hat sie leider eines Besseren belehrt. Und zum Handeln animiert. Nach dem tariflichen Erfolg in Berlin waren Lisa Einzmann und ihre Mitstreiter*innen motiviert, auch auf politischer Ebene Druck für eine bundesweite Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Rettungsstellen zu machen.

Die bundesweite Vernetzung von "Notaufnahmen retten" hat mittlerweile gezeigt, dass die Berliner Rettungsstellen kein Einzelfall sind. Pflegekräfte aus Notaufnahmen in ganz Deutschland berichten von ähnlichen Situationen. Unterbesetzung ist Alltag. "Unser Arbeitsbereich steuert immer schneller auf den Abgrund zu", sagt Sebastian Walther. Der Gesundheits- und Krankenpfleger arbeitet seit fünf Jahren in Rettungsstellen in Jena. "Viele meiner Kolleg*innen verlassen den Beruf oder landen im Burnout", erzählt der 31-Jährige, der sich für die Zukunft seines Berufs stark macht und sich für die "Aktion: Notaufnahmen retten" engagiert. "Ich bin sehr gerne Notfallpfleger, aber die Rahmenbedingungen stimmen aktuell nicht."

Die Rahmenbedingungen: Eine gesetzlich vorgeschriebene Personaluntergrenze für die Notaufnahmen gibt es nicht. Durch die Krankenhausfinanzierung nach dem Fallpauschalen-System (auch: DRG – Diagnosis Related Group) werden die Patient*innen, die in den Notaufnahmen aufgenommen werden, zumeist über die weiterbehandelnden Normalstationen abgerechnet. Die Rettungsstellen zählen zu den sogenannten Funktionsdiensten der Kliniken und nicht zu den bettenführenden Stationen. Daher wird das Pflegepersonal in den Notaufnahmen nicht von den Krankenkassen refinanziert. In der Notaufnahme selbst wird in erster Linie die Diagnostik abgerechnet. Bei Notfallpatient*innen ohne Krankenversicherung oder festen Wohnsitz kann noch nicht mal diese Vergütung geltend gemacht werden. Die Folge: Notfallpflege stellt für die Krankenhäuser ein Minusgeschäft dar, die Notaufnahmen sind in allen Kliniken hochdefizitär. Dementsprechend stiefmütterlich werden sie in den meisten Kliniken behandelt.

Bundespetition gestartet

Das muss sich ändern, dringend. Davon sind die derzeit rund 20 Aktiven von "Notaufnahmen retten" überzeugt und haben eine entsprechende Bundespetition auf den Weg gebracht. "Jeder Mensch kann jederzeit in eine Notfallsituation geraten und hat das Recht in dieser Situation sicher und qualitativ hochwertig versorgt zu werden", heißt es im Petitionstext. Aber das sei "aktuell in kaum einer Notaufnahme dauerhaft gewährleistet".

Deshalb fordert die "Aktion: Notaufnahmen retten" in der Petition unter anderem die Festlegung einer verbindlichen Personalbesetzung für alle Notaufnahmen und einen Personalbedarf, der sich nach den erbrachten, nicht den abrechenbaren Leistungen in den Notaufnahmen richtet. Außerdem sollen die Rettungsstellen als pflegesensitive Bereiche definiert werden, sodass auch die Refinanzierung der Personalkosten für die Pflege möglich wird. Und damit die Pflegekräfte und Ärzt*innen sich ungestört um ihre Patientinnen und Patienten kümmern können, fordert "Notaufnahmen retten" darüber hinaus für jede Rettungsstelle einen Sicherheitsdienst, der rund um die Uhr im Einsatz ist. Denn Gewalt und Aggressionen der Patient*innen oder ihrer Angehörigen gegen die Beschäftigten in den Notaufnahmen erschweren die Arbeit zusätzlich.

Das belegt auch die Online-Umfrage zu den Arbeitsbedingungen der Pflegenden, welche die "Aktion: Notaufnahmen retten" an allen Berliner Notaufnahmen durchgeführt hat. Die Umfrage-Ergebnisse sind erschreckend, berichtet Lisa Einzmann. Nur fünf Prozent der Befragten habe in den letzten zwölf Monaten keine Gewalt erlebt. Auch unterbesetzte Schichten gehören für die Mehrheit der befragten Beschäftigten zum Arbeitsalltag. Über 80 Prozent der Kolleg*innen berichteten davon, regelmäßig über ihre persönliche Belastungsgrenze zu gehen. Diese Überlastung gefährdet nicht nur die Gesundheit der Beschäftigten, sondern auch die der Patient*innen.

"Über 90 Prozent der Befragten gaben an, dass es in ihrer Rettungsstelle täglich zu Patienti*innengefährdungen komme." Unter den aktuellen Bedingungen könne sich in der Folge fast keine*r der derzeit rund 250 Befragten vorstellen, in fünf Jahren noch in einer Notaufnahme zu arbeiten.

Breite Unterstützung

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Von links nach rechts: Lisa Einzmann, Claudia Schneider, Leonie Pohl, Stella Merendino, Louise Junge und Daniel Labes. Ihr Protest wächst

Die Rettungsstellen-Umfrage läuft mittlerweile überregional. "Wir sind gut vernetzt und haben Kontaktdaten von fast allen Notaufnahmen in Deutschland," sagt Lisa Einzmann. Da die Gruppe aktiver Mitglieder der "Aktion: Notaufnahmen retten" bundesweit beständig wächst, steht nun die Vereinsgründung kurz bevor. "Wir freuen uns auf Aktive und Unterstützer*innen aus allen Berufsgruppen, die in Rettungsstellen arbeiten", betont Lisa Einzmann. "Die Arbeit in der Notaufnahme ist immer interdisziplinäre Teamarbeit auf Augenhöhe." Und so halten sie es auch bei der "Notaufnahmen retten".

Eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für die Menschen, die in Notsituationen Hilfe brauchen, ist nur mit ausreichend Personal und guten Arbeitsbedingungen möglich. Diesen Standpunkt teilen unterschiedliche Verbände und Initiativen, darunter die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA). Auch die ver.di-Mitgliederversammlung von Charité und Vivantes in Berlin hat beschlossen, die "Aktion: Notaufnahmen retten" zu unterstützen. "Die Kolleg*innen stehen voll und ganz hinter der Initiative", sagt Max Manzey, zuständiger ver.di-Gewerkschaftssekretär in Berlin-Brandenburg. "Deshalb verbreiten wir die Petition über die Netzwerke der ver.di-Krankenhausbewegung."

Unterstütze die Petition "Aktion: Notaufnahmen retten"

change.org/p/bundesweite-petition-der-notaufnahmen-in-krankenhäusern

Mehr Informationen zur "Aktion: Notaufnahmen retten":

notaufnahmenretten.de

twitter.com/AktionZNAretten

In unserem Blog „wir sind ver.di“ haben wir schon einmal eine Kollegin in ihrer Schicht auf der Notaufnahme begleitet:

Protokoll einer Schicht, in der zum Glück niemand gestorben ist