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Ulrich Walwei ist Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) und wird Ende September auf den ver.di-Zukunftstagen Digitalisierung, Dekarbonisierung, demografischer Wandel einen Vortrag haltenFoto: Wolfram Murr Photofabrik/IAB

ver.di publikGegenwärtig ist viel die Rede von fundamentalen Veränderungen durch Demographie, Digitalisierung und Dekarbonisierung. Was bedeuten die "drei D" für den Arbeitsmarkt?

Ulrich Walwei – Durch die demografische Entwicklung werden dem deutschen Arbeitsmarkt künftig weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, zugleich altern die Belegschaften. Wollten wir den heutigen Stand halten, bräuchten wir pro Jahr 400.000 Zuwanderer mehr als Menschen, die Deutschland verlassen. Zugleich strukturiert die Digitalisierung weite Teile der Wirtschaft um – und damit einher gehen neue Qualifikations- und Kompetenzanforderungen. Es werden folglich neue Arbeitsplätze entstehen, andere werden sich stark verändern. Eine massenhafte Arbeitslosigkeit oder ein großes Wegbrechen von Arbeitsplätzen befürchte ich aber nicht. Das Gleiche gilt für die Notwendigkeiten, die sich aus dem Klimawandel ergeben. Vor allem Arbeitsweisen in Industrie und Energieversorgung werden sich ändern müssen – aber das bedeutet nicht, dass es deswegen wesentliche Einbußen beim wirtschaftlichen Wachstum geben muss.

In Krankenhäusern, Kitas, Schulen und bei der Pflege fehlen schon heute viele Fachkräfte. Nirgendwo sonst fallen so viele Beschäftigte aus wegen Burnout, wodurch die Situation für die übrigen noch stressiger wird. Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?

Es stimmt, wir brauchen in den sozialen und Gesundheitsberufen mehr Leute. Das wird nur gehen, wenn es klare Signale gibt, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern – und dabei geht es nicht allein um die Vergütung, sondern auch um den Arbeitsalltag, die Dokumentationspflichten etc.. Von den skandinavischen Ländern können wir viel lernen, wie man in solchen Bereichen auch gesund altern kann. Ohne eine bessere Personalausstattung jedenfalls werden wir kaum neue Leute gewinnen und halten können. Klar ist auch, dass die Kranken- und Pflegeversicherungen und die Länder mehr Geld bereitstellen müssen.

Verschärfend hinzu kommt, dass in den kommenden Jahren die große Gruppe der in den 1960er-Jahren Geborenen den Arbeitsmarkt verlässt, was zusätzliche Lücken reißt. Wo soll denn Ersatz für die Babyboom-Generation herkommen?

Zum einen ist eine Stärkung der Attraktivität der betrieblichen Ausbildung für Jugendliche mit höheren Schulabschlüssen und eine stärkere Öffnung für benachteiligte Jugendliche notwendig, um mehr dringend benötigte Fachkräfte auszubilden. Zum zweiten gilt es, Personen zu gewinnen, die bisher an anderen Stellen im Arbeitsmarkt unterwegs sind oder die den Bereich wegen der schlechten Bedingungen verlassen haben. Und wir brauchen eine aktive Einwanderungspolitik mit einem ganzen Paket von Maßnahmen.

Im Moment arbeitet die Politik ja an einem entsprechenden Gesetz, das zum Beispiel die Hürden für die Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland abbauen soll. Es muss außerdem niedrigschwellige Möglichkeiten geben, dass Menschen sich hier erst einmal orientieren können um herauszufinden, wo und wie sie in einem konkreten Arbeitsumfeld andocken können. Wichtig ist dabei, dass dann berufsbegleitend die Sprache erlernt wird, damit zugewanderte Menschen nicht langfristig aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen unter ihrer Qualifikation arbeiten.

Aber ist es fair, Fachkräfte aus ärmeren Ländern einfach abzuwerben?

Das ist ein wichtiger Punkt, insbesondere wenn es um Menschen aus Drittstaaten – also außerhalb der EU – geht. Wenn Länder diese Arbeitskräfte verlieren, muss man das natürlich gut abstimmen. Da gibt es inzwischen auch schon einige Vereinbarungen. So läuft etwa seit 2013 das Triple Win Programm zur Gewinnung von Pflegefachkräften, in dem die beiden Träger des Programms, die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), darauf achten, dass nur Pflegekräfte aus Ländern mit einem Fachkräfteüberschuss rekrutiert werden. Die Beschäftigung in Deutschland qualifiziert viele aber auch weiter, und oft bringen sie diese Kenntnisse später mit zurück in ihre Heimat. Auch sind die Rücküberweisungen für viele Länder wichtig. Zugleich muss man aber auch aufpassen, dass es nicht zum sogenannten Braindrain kommt.

Umorientierungen gab es ja auch schon in großem Umfang durch die Pandemie. In der Gastronomie, im Security-Bereich, an Flughäfen, überall fehlte in diesem Sommer Personal. Wo sind die Menschen hingegangen?

In diesen Bereichen gibt es traditionell eine relativ große Fluktuation. Früher haben die Betriebe regelmäßig neue Leute eingestellt. Diese Nachbesetzung ist in der Pandemie unterblieben – und deshalb suchen jetzt alle auf einmal. Es gibt eine interessante Analyse von zwei Kollegen aus meinem Haus zum Verbleib von Kellner*innen. Sie arbeiten heute in der Logistik, bei Lieferdiensten, in medizinischen und nichtmedizinischen Gesundheitsberufen, etwa Corona-Testzentren. Da sind die Arbeitszeiten oft auch regelmäßiger.

Corona hat auch die Möglichkeiten von viel mehr Homeoffice gezeigt. Das spart nicht nur Pendelwege. Könnte es nicht auch ein Mittel sein gegen die extrem hohen Mieten in den Großstädten und den Leerstand in vielen Dörfern – und damit vielleicht auch Neubauten verhindern, die das Klima ja auch belasten?

Da fehlt uns im Moment noch die Datengrundlage, um sichere Aussagen treffen zu können. Klar ist aber, dass Homeoffice neue Rekrutierungsmöglichkeiten für Betriebe eröffnet, weil nicht alle Beschäftigten in der Nähe wohnen müssen – und das Gleiche gilt aus Perspektive der Beschäftigten für potenzielle Arbeitgeber. Wir gehen davon aus, dass 50 bis 60 Prozent der Arbeitsplätze im Moment in gewissem Maße homeoffice-fähig sind. Zugleich sollte aber auch die Bedeutung informeller Kontakte am Arbeitsplatz für die vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht unterschätzt werden. Aber es gibt ja auch Hybridformen und ich sehe bei dem Thema durchaus eine Chance, die Klima-Bilanz zu verbessern.

Interview: Annette Jensen

Die ver.di-Zukunftstage…

… finden vom 28.bis 30. September in der ver.di-Bundesverwaltung statt. An drei Tagen diskutieren Politiker*innen mit Gewerkschafter*innen und Wissenschaftler*innen. Die Veranstaltung kann im Internet unter Mit ver.di in die Zukunft live verfolgt werden.