Die Dunkelziffer ist hoch. Von bis zu 90 Prozent nicht gemeldeten queer-feindlichen Übergriffen in Deutschland gehen Verbände wie der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) aus. In seiner Statistik gibt das Bundesinnenministerium zwei Übergriffe pro Tag an, geht aber ebenfalls von einer sehr hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle aus.

Das aktuelle Jahr wird vor allem wegen brutaler Übergriffe in Erinnerung bleiben: In Münster, Augsburg und Bremen endete Gewalt gegenüber queeren Menschen mit schweren Verletzungen, in einem Fall gar mit dem Tod. In einem Interview mit der Deutschen Welle sagt Alfonso Pantisano vom LSVD-Bundesvorstand: "Diese Übergriffe passieren an jedem Tag der Woche, an jeder Uhrzeit des Tages, an jeder noch so großen Straße und dann in einer noch so kleinen Gasse. Sie passieren in der U-Bahn, sie passieren im Bus, sie passieren auf dem Schulhof, sie passieren in Betrieben, in Vereinen, im Einkaufszentrum."

Rund 80 Prozent outen sich

Im Februar 2021 outeten sich unter #actout 185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans* Schauspieler*innen aus Theater, Film und Fernsehen. Ein knappes Jahr später outeten sich 125 Mitarbeitende der katholischen Kirche unter dem Motto "Wie Gott uns schuf" und #OutInChurch. Doch wie sieht es im Rest der Arbeitswelt aus? Wie viele LGBTIQ*-Personen outen sich tatsächlich? Und wie sind ihre Erfahrungen damit?

Wirklich erforscht ist die Arbeitssituation queerer Menschen nicht. Es gibt nur wenige Studien und sie bilden vorläufig nur Ausschnitte über sexuelle Identität, Anerkennung und Diskriminierung am Arbeitsplatz ab. Doch innerhalb vieler Betriebe ist das Thema Vielfalt in den letzten Jahren vorangetrieben worden. Gerade erst wurde die Landeshauptstadt München beim PRIDE Index 2022 auf Grundlage einer deutschlandweiten Befragung aller großen Arbeitgeber*innen zu Diversität und LGBTIQ* am Arbeitsplatz mit dem "PRIDE Champion" in Gold ausgezeichnet. Andreas Mickisch, Personal- und Organisationsreferent der Stadt München hebt vor allem das aktive Beschäftigtennetzwerk für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Beschäftigte der Landeshauptstadt hervor. Das sei nicht nur ein Gewinn für alle Beschäftigten, sondern es zeige auch, "wie wichtig Diversität für uns als größte kommunale Arbeitgeberin Deutschlands ist".

Angst vor beruflichen Einschnitten

Eine Umfrage der Unternehmensberatung Boston Consulting Group vom August 2021 unter rund 8.800 Beschäftigten aus 19 Ländern, darunter 316 Deutsche, kam zu dem Ergebnis, dass sich 70 Prozent der queeren Beschäftigten bereits während des Einstellungsprozesses oder innerhalb des ersten Anstellungsjahres outen. 10 Prozent der Beschäftigten tun dies erst zu einem späteren Zeitpunkt. 20 Prozent der Befragten verschweigen ihre sexuelle Orientierung gegenüber den Kolleg*innen. Insgesamt 72 Prozent der befragten Beschäftigten hatten sich zum Zeitpunkt der Umfrage geoutet. Aber nur etwa 45 Prozent der Befragten gaben an, auch gegenüber Kunden geoutet zu sein.

Wer sich nicht outete, gab verschiedene Gründe dafür an, unter anderem fehlende Vorbilder im Betrieb, eine LGBTIQ*-unfreundliche Betriebskultur sowie Angst vor beruflichen Einschnitten. Tatsächlich verspürten 19 Prozent der deutschen Befragten einen beruflichen Nachteil durch ihr Outing. Die Hälfte gab an, diskriminierende Erfahrungen gemacht zu haben. Insbesondere Transpersonen seien häufig von Diskriminierung betroffen. pewe

* LGBTIQ* steht für Lesben, Gay, Bi⁠, Trans, Intergeschlechtlich und queere Personen, der Stern für alle geschlechtlichen und sexuellen Selbstbezeichnungen

Ich bin jetzt die, die ich tatsächlich bin

Karin Mayer, 45

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Fotos: privat [m]

Ich bin trans.

Ich arbeite seit 1999 bei der Firma Weltbild im Kundenservice. Was mein Coming-out 2021 und den Umgang mit mir danach am Arbeitsplatz angeht, kann ich zum Glück nur loben. Nach meinem inneren Coming-out vor mir selbst band ich 2020 zunächst meinen Betriebsratsvorsitzenden und seine Stellvertreterin ein. Beide nahmen mich herzlich mit diesem oft noch im Arbeitskontext problematischen Thema auf. Zu dritt legten wir uns einen Plan zurecht fürs Coming-out im Betrieb.

Als ich dann im Herbst 2021 meinen Gerichtsbeschluss nach dem Transsexuellen-Gesetz (TSG) in der Tasche hatte, machten die beiden zunächst die Personalabteilung aufmerksam, dass wir eine Transperson in der Firma haben und erklärten den Kolleg*innen, dass sich außer dem Namen der Person für die Firma nichts ändern würde. In den darauffolgenden Termin mit meinem Chef ging ich mit großem Herzrasen – aber völlig unnötig. Er übernahm profes- sionell seine Führungsverant-wortung, als er mich meiner Abteilung in einem Meeting "erneut" vorstellte. Er machte klar, dass Kolleg*innen, die mit meinem Wandel Probleme hätten, dies mit ihm, nicht mir ausmachen müssten. Anstatt negativer Reaktionen kamen dann aber nur Glückwünsche.

Seit nun einem Jahr arbeite ich als die, die ich tatsächlich bin. Ich bin seither einfach nur unheimlich glücklich über den offenen und lieben Umgang mit dem Thema Transgender seitens meiner Kolleg*innen. So wie für mich sollte es immer laufen.

Mit Karin haben wir auch für unseren Blog „wir sind ver.di“ gesprochen. Hier geht's zum langen Interview mit ihr:

„Ein Doppelleben kam nicht mehr in Frage... auch nicht am Arbeitsplatz“

Jahrelang ein Geheimnis

Markus Zittlau, 55

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Ich arbeite seit 1992 in der Commerzbank Zentrale in Frankfurt/Main, mittlerweile als freigestellter Betriebsrat. Aus meiner sexuellen Orientierung, ich bin ein schwuler Mann, habe ich jahrelang ein Geheimnis gemacht. Erst 1999 habe ich mich langsam im persönlichen privaten Umfeld an mein Coming-out gewagt. Eine Offenlegung im Betrieb war zu dem Zeitpunkt für mich undenkbar. Eine offene Diskriminierung von queeren Personen habe ich im Betrieb zum damaligen Zeitpunkt zwar nicht erlebt, aber ich bekam als vermeintlicher Heteromann mit, wie über die queeren Kolleg*innen hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Nach meinem größtenteils positiv verlaufenen Coming-out im privaten Bereich, wurde die Trennung zwischen persönlichem und betrieblichem Umfeld, meiner beiden Lebenswirklichkeiten immer schwieriger. Zumal auch Kolleg*innen zu meinen privaten Freunden zählten.

Ich suchte Kontakt zu dem LGBT-Netztwerk "arco" der Commerzbank, was letztendlich dazu führte, mein Coming-out nun auch im Betrieb umzusetzen. Meine große Angst davor erwies sich allerdings als weitgehend unbegründet. Viele Kolleg*innen waren überrascht, wenige schockiert, eine Person geht mir seitdem aus dem Weg. Auch bei meinen Vorgesetzten sind mir keine erkennbaren Nachteile erstanden, allerdings war ich jetzt bei den heimlichen Tuscheleien und Lästereien über queere Personen raus. Persönlich war es für mich eine große Befreiung, nicht mehr überlegen zu müssen, wem ich was erzähle, um mein Doppelleben aufrechtzuerhalten.

Positiv überrascht

Charlotte Wahl, 38

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Hey, ich bin Charlotte und seit über vier Jahren Zustellerin bei der deutschen Post.

Nachdem ich lange mit mir selbst gekämpft hatte, habe ich mich Mitte 2020 als trans geoutet. Zuerst bei meiner Standortleiterin – von ihr habe ich ausnahmslos Rückhalt erfahren – und dann beim Betriebsrat und unserer Personalchefin. Als das super lief, haben es dann auch die Kolleg*innen am Standort erfahren. Jedes Mal hatte ich so viel Angst vor den Reaktionen und jedes Mal wurde ich von der positiven Rezeption überrascht!

Lesbenfeindliche Sprüche von Kunden

Claudia Schulz, 54

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Ich bin seit 32 Jahren bei dem Bahnhofsbuchhändler Stilke Buch- und Zeitschriftenhandels GmbH beschäftigt. Für mich gab es nie ein Coming-out, weil ich immer offen lesbisch gelebt habe. Alles andere wäre mir zu anstrengend gewesen. Bereits ein paar Jahre später kandidierte ich für den Betriebsrat. Dort traf ich auf einen weiteren schwulen Kollegen. Auffällig ist unsere wesentlich stärker ausgeprägte Resilienz, weil wir es gewohnt sind, für unsere Rechte besonders eintreten zu müssen. Im Kolleg*innenkreis kann ich persönlich nicht über negative Erfahrungen berichten, aber die männliche Kundschaft dachte bisweilen, misogyne und lesbenfeindliche Sprüche machen zu können, wenn ich mich nicht weiblich genug verhalten habe. Da fielen Sprüche wie, ich müsse nur mal ordentlich durchgevögelt werden oder ich solle mal mehr lächeln. Das war sehr belastend. Das ist einer der Gründe, warum ich leidenschaftliche Betriebsratsvorsitzende bin und mich sehr intensiv bei und mit ver.di engagiere, im Fachbereich Handel und auch als Vorsitzende des Arbeitskreis ver.di Regenbogen Hamburg.

Die penetrante Anwendung gendergerechter Sprache – eines meiner Hauptthemen – hat bei meinem Arbeitgeber zu seiner Sensibilisierung erfolgreich beigetragen und führt inzwischen dazu, dass sie in eigenen Publikationen darauf achten und zwar konzernweit.

Aktuell kämpfen wir in ver.di noch für einen Sitz im Gewerkschaftsrat für den Bundesarbeitskreis. Queere Themen sind gewerkschaftliche Themen, denn wir verbringen sehr viel unserer Lebenszeit am Arbeitsplatz. Können wir dort unsere Persönlichkeit nicht frei entfalten, müssen wir uns gar verstecken, macht das krank. Wir brauchen daher Teilhabe an der demokratischen Willensbildung in ver.di. Mittendrin statt nur dabei!

Das war schmerzlich

J. Luca Renner, 39

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Mein Name ist Luca. Ich bin non binär. Das bedeutet, dass ich mich weder mit dem weiblichen noch mit dem männlichen Geschlecht identifiziere.

Als ich vor drei Jahren nach Berlin kam, habe ich mich geoutet, da ich bis dahin noch einen anderen Vornamen hatte, der dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wird. Ich hatte den neuen Namen im privaten Umfeld bereits zwei Jahre "getestet". Aufgrund der diskriminierenden Gesetzgebung des Transsexuellengesetzes (kurz TSG) habe ich mich dagegen entschieden, das Verfahren mit psychologischen Gutachten und Gerichtsverfahren zu durchlaufen, nur um anerkennen zu lassen, wer ich wirklich bin. Einer meiner vorherigen Arbeitsgeber hat es verweigert, meine Mailadresse und Anrede an den neuen Namen und die Geschlechtseinordnung anzupassen. Ich solle erst einen aktualisierten Personalausweis vorlegen. Diesen musste ich nicht mal in Kopie vorlegen, als ich dort eingestellt wurde.

Trotz mehrfachem Bitten wurde meinem Wunsch auf respektvollen Umgang damit nicht stattgegeben. Das war wirklich schmerzlich. Was die Personalabteilung nicht konnte, haben zumindest aber die meisten Kolleg*innen dort getan. Sie haben mich mit meinem richtigen Namen angesprochen.

Als ich im April 2021 in der Bundesverwaltung bei ver.di anfing, habe ich gleich bei der Erstellung des Arbeitsvertrages und der Mailadresse darum gebeten, alles anzugleichen, was auch ohne Probleme klappte. Kein Nachfragen. Nur am ersten Tag und bei neuen Kolleg*innen werde ich gefragt, wie ich angesprochen werden möchte. Danke euch dafür. Und wenn nächstes Jahr das Selbstbestimmungsgesetz das derzeitige TSG ablöst, reicht der Gang zum Standesamt und ich bin dann auch amtlich bestätigt Luca.

Diskriminiert wurde ich eher als Frau und nicht als Lesbe

Elke Bsirske, 59

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Ich bin Bauingenieurin im Tiefbau im Bereich Instandhaltungsmanagement. Hier kümmere ich mich hauptsächlich um Kanalsanierungen im Netz, von der Grundlagenermittlung über die erforderlichen Planungsschritte bis hin zur Ausführung. 1994 verliebte ich mich zum ersten Mal in eine Frau. Damals war ich bereits seit einem halben Jahr von meinem Ex-Mann getrennt und mit drei Kindern im Alter von 2, 4 und 6 Jahren alleinerziehend. Ich bin von Anfang an nach außen offen mit meiner Liebe zu Frauen umgegangen. Diskriminiert wurde ich am Arbeitsplatz deswegen nie. Als meine heutige Frau und ich uns 2007 verpartnerten, feierten wir das nicht nur mit unseren Kindern und Freund*innen, sondern auch mit einigen unserer Kolleg*innen. Das war ein sehr schönes Erlebnis. Ich lernte 2001 meine jetzige Partnerin kennen, 2002 habe ich mich, damit wir zusammenleben können, bei meinem heutigen Arbeitgeber beworben. Befragt nach der Begründung für den angestrebten Ortswechsel gab ich private Gründe an, mehr erfragen darf der Arbeitgeber ohnehin nicht. Aber für mich war und ist es normal, im Kolleg*innenkreis von meiner Frau zu sprechen, wenn mal privat gesprochen wird. Egal wie eng ich mit den einzelnen Personen bin.

Diskriminierung habe ich eher als Frau und nicht als Lesbe erfahren. Wenn es etwa um die Eingruppierung geht, dann werden häufiger Männer in die höhere Eingruppierung gestuft als wir Frauen. Wegen des Fachkräftemangels werden inzwischen neue Kolleg*innen immerhin schneller höhergestuft, damit sie sich nicht wieder wegbewerben.

Am meisten fremdelt bis heute tatsächlich meine Herkunfts-Familie mit meinem Coming-Out, auch wenn sie sich damit arrangiert hat. Sprüche wie "warum hast du dir keinen netten Mann gesucht, auch als Vater für Deine Kinder" höre ich bis heute manchmal noch von meiner Mutter. Auch in der Öffentlichkeit sehe ich immer mal wieder Befremden, wenn ich Hand in Hand mit meiner Frau spazieren gehe. Dann bleiben wir auch gerne mal provokativ für ein Küsschen stehen!