Setzerei_Brockhaus_Verlag_19_Jh.jpg
In der Setzerei des Brockhaus-Verlags Ende des 19. JahrhundertsHolzstich, um 1870: © akg-images

Es ist der 18. März 1873, hunderte Buchdruckergehilfen in Breslau sind seit zehn Tagen im Ausstand. Ihre Arbeitsbedingungen sind oftmals menschenunwürdig, teilweise arbeiten sie 80 Stunden in der Woche, und auch die Bezahlung ist schlecht. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ist es in Deutschland zu ersten größeren Arbeitsniederlegungen gekommen. Das englische Wort "strike" hat längst Eingang in die deutsche Sprache gefunden. Und auch dass der Aufruf zu einem Streik noch mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden kann, schreckt die aufkeimende Arbeiterbewegung nicht ab.

Im Gegenteil: Bis zum Streik der Buchdrucker hatte es in Deutschland seit dem Revolutionsjahr 1848 schon mehr als tausend Arbeitskämpfe gegeben. Viele Kämpfe gehen seinerzeit zwar noch verloren, doch die Erfahrungen schweißen zusammen. Der Gedanke, sich zusammenzutun in einer starken Organisation, um gemeinsam Forderungen durchzusetzen – er ist unter den Arbeitern gereift. Die Buchdrucker, genau genommen die Buchdrucker- und Schriftsetzergehilfen, schließen sich 1866 landesweit in einer Gewerkschaft zusammen, dem Deutschen Buchdruckerverband mit Sitz in Leipzig. Und jetzt im März 1873 streiken sie überall im Land.

Raus aus den finsteren Werkstätten

In Breslau brechen die Streikenden an diesem Frühlingstag zu einem "Spaziergang" auf, so steht es in den "Gedanken eines strikenden Buchdruckers", der dabei ist. Weiter schreibt dieser: "Nun, so wie jeder Omnibusgaul, wenn er die Tour vom Nicolaithor bis zum Wintergarten xmal des Tages zurücklegte, vor Freuden dem Stall zuwiehert, [...] so erging es uns, als wir, statt in die finstere Officin [Werkstatt] am Nachmittage des 8. [März] zurückzukehren, die gemütlichen Räume des Cambrinus aufsuchten und, statt uns an unleserlichem Manuscript abzuquälen, lieber schäumende Seibel trefen und den Verband hoch leben ließen."

Die Buchdruckergehilfen machen eine Bierstube zu ihrem Streiklokal, wo sie sich nunmehr täglich von ihren "Strapazen" ausruhen, "denn etwas Ruhe that uns wirklich Noth", notiert der Buchdrucker. Am 18. März machen sie sich "bei herrlichem Wetter" gruppenweise auf den Weg zum Scheitniger Park. Sie geben sich anfangs als Spaziergänger unter Spaziergängern aus. Einen "Massenaufzug" wollen sie vermeiden, denn die scheinen in der Bevölkerung nicht beliebt zu sein. Auch das hält der Buchdrucker in seinen Notizen fest.

Der Scheitniger Park ist eine große innerstädtische Parkanlage östlich des Stadtzentrums, benannt ist er nach seiner Lage im gleichnamigen Stadtteil. Der Park war während der Napoleonischen Kriege 1806 verwüstet und zwischen 1865 und 1867 durch den Berliner Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné zu einem englischen Landschaftspark umgestaltet worden. An diesem schönen Märztag fallen die immer mehr werdenden und alsbald singenden Buchdrucker dann doch auf, die anderen Parkbesucher werfen ihnen verwunderte Blicke zu.

Der muntere Tross zieht aber schon bald weiter in "Papa Dietrich's Sälchen". Dort wird wieder ordentlich dem "Gerstensaft" zugesprochen, "zündende Reden" werden gehalten, und der Gesangsverein "Gutenberg" gibt ein paar Lieder zum Besten, "bis nach einigen froh verlebten Stunden der Heimweg angetreten" wird. Der schreibende Buchdrucker hält am Ende des Tages fest, dass er und seine Kollegen heute Hoffnung geschöpft haben und ihrer "gerechten Sache der Sieg nicht fehlen werde".

Kündigungen und Aussperrungen

Schon am 25. Januar hatten 355 Setzer und 55 Maschinenmeister in Leipzig ihre Kündigung eingereicht und sich so der Arbeit entzogen. Zwölf Tage zuvor hatte der Buchdruckerverband zu Tarifberatungen nach Leipzig eingeladen und sich auf einen Vorschlag für einen deutschlandweiten Tarif verständigt: Der Akkordlohn der Setzer sollte erhöht, ein Wochenmindestlohn, der Zehnstundentag einschließlich Pausen eingeführt werden. Nur: Die Arbeitgeber, die sich 1869 im Deutschen Buchdruckerverein – ebenfalls mit Sitz in Leipzig – zusammengeschlossen hatten, lehnen den Tarifvorschlag am 22. Januar 1873 ab. In Leipzig reagieren die dortigen Arbeitgeber auf den anschließenden Streik mit der Aussperrung von weiteren 200 Gesellen, die Mitglied des gewerkschaftlichen Buchdruckerverbands sind.

Insgesamt vier Monate streiken die Buchdrucker und Gehilfen anschließend. Der Durchbruch bahnt sich Mitte März an, als auch in Breslau gestreikt wird. Und er nimmt seinen Lauf nicht auf der Straße und auch nicht im Streiklokal sondern auf Papier. In einem Briefwechsel tauschen Richard Härtel, der Vorsitzende des Deutschen Buchdruckverbands, und Eduard Brockhaus, der Vorsitzende des Deutschen Buchdruckervereins, ihre Forderungen und Standpunkte aus.

Richard_Haertel_Verband_Buchdrucker.jpg
Richard HärtelILLUSTRATION : YANNICK HELLER

Richard Härtel ist zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt, mit 14 Jahren hatte er in der Druckerei Naumann in Leipzig das Setzerhandwerk erlernt, in den Folgejahren arbeitet er in verschiedenen Druckereien der Stadt. Er gründet 1863 einen Fortbildungsverein für Buchdrucker und Schriftgießer und den "Correspondent", ein Mitteilungsblatt, dass sich fortan der Vertretung der Interessen der Buchdrucker widmet. Mit der Gründung des Buchdruckerverbands wird es zum Verbandsblatt bestimmt und Härtel sein leitender Redakteur und gleichzeitig Vorsitzender des Verbands. Als Setzer arbeitet er Zeit seines Lebens nicht mehr.

Sein Gegenüber im Verein der Buchdrucker, dem Arbeitgeberverband, ist in der Auseinandersetzung Eduard Brockhaus, ein Verleger und national-liberaler Politiker. Wie schon sein Vater Heinrich Brockhaus kümmert er sich um die Interessenvertretung von Verlegern und Druckereibesitzern. Und wie Härtel findet er Erfüllung in der Welt der Zeitungen. Von 1857 bis 1883 redigiert er die in seinem Verlag erscheinende Deutsche Allgemeine Zeitung. Brockhaus ist erst wenige Monate Vorsitzender des Deutschen Buchdruckervereins, als Anfang 1873 landesweit die Streiks in den Druckereien ausbrechen.

Vom Wert des Flächentarifs

Eduard Brockhaus.jpg
Eduard BrockhausIllustration: Yannick Heller

Während in Berlin, Braunschweig, Breslau, Köln, Frankfurt a.M., Hamburg-Altona, Hannover, Leipzig, München, Stettin und Stuttgart tausende Buchdrucker und Setzer ihre Arbeit niederlegen, am 8. März von Augsburg bis Zwickau in 66 weiteren Druckorten 1.800 Beschäftigte seitens der Arbeitgeber wegen ihrer Mitgliedschaft im Verband der Buchdrucker ausgesperrt werden, schreiben sich die beiden Vorsitzenden vom 13. bis zum 25. März 1873 mehrere Briefe. Brockhaus lässt Härtel am 13. März einen ersten Tarif-Entwurf der Arbeitgeber zukommen und betont ausdrücklich: "Von dem Vereins-Vorstand sowohl, als auch von der Tarif-Commission ist es wiederholt ausgesprochen worden, daß ein solcher Tarif erst dann einen eigentlichen Werth bekommt, wenn er von der gesammten Gehilfenschaft anerkannt und überall eingeführt wird."

Härtel bestätigt am 15. März kurz den Eingang des Schreibens, um dann am 19. März ausführlich zu antworten. In Breslau steckt den Streikenden noch die ganze Hoffnung auf einen Erfolg vom Vortag in den Beinen. Härtel schreibt: "Wenn Sie sagen, daß ein allgemeiner Tarif erst Werth bekommt, wenn er von der gesammten Gehilfenschaft anerkannt und überall eingeführt wird, so kann ich Dem nur beistimmen. Gerade dieser Umstand hat bekanntlich seiner Zeit die Verbandsmitglieder veranlasst, nur unter der Voraussetzung eine solche Anerkennung aussprechen zu wollen, daß die Einführung des Tarifs schon im Voraus nahezu gesichert sei."

Dem ersten landesweiten Flächentarifvertrag steht nun nichts mehr im Wege. Härtel und Brockhaus verständigen sich nach Rücksprache in ihren Reihen auf die Einsetzung einer paritätisch besetzten Tarifkommission mit je zehn Vertretern der Arbeitgeber und der Beschäftigten bei wechselndem Vorsitz. Die Kommission trifft sich Anfang Mai in Leipzig, Misstrauen bestimmt anfangs noch das Klima, über die Ausgestaltung des endgültigen Tarifvertrags wird hart verhandelt. Brockhaus macht deutlich, dass sein "Verein factisch die größte Nachgiebigkeit bewiesen" habe, "denn in der Wirklichkeit sei der Principal-Tarif [gemeint ist der Tarif-Vorschlag der Arbeitgeber] ganz auf der Grundlage des Gehilfen-Tarifs aufgebaut". "Das Wenigste, was man in dieser Hinsicht verlangen könne, sei das sofortige Aufhebens des Strikes", betont er.

Einstimmig wird das Ergebnis schließlich angenommen und nach teils wochenlangen Streiks und Aussperrungen wird der Tarifvertrag am 9. Mai in Kraft gesetzt. Der Zehnstundentag, feste Satzpreise, ein Mindestlohn, Überstundenzulagen, eine vierzehntägige Kündigungsfrist und eine Vereinbarung über Schiedsämter sind nun Realität, auch in Breslau.

Auch 150 Jahre später streitet ver.di, die Nachfolgerin des Deutschen Buchdruckerverbandes, mit ihren Mitgliedern immer wieder um allgemeinverbindliche Flächentarifverträge. Tarifverhandlungen sind unser Geschäft – seit nunmehr 150 Jahren.