22_23_kultur_musik_KAI_DEGENHARDT.jpg
Foto: Norbert Krampf

Kai Degenhardt: Arbeiterlieder

Als sie in Schlesien im Jahr 1844 den Aufstand probten, da sangen die Weber das Lied vom „Blutgericht“. Fast 180 Jahre später beginnt Kai Degenhardt mit diesem Klassiker sein Album Arbeiterlieder. Es folgt das nicht wesentlich jüngere Bet’ und arbeit’ mit der legendären Zeile: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Die Geschichte der Arbeiterbewegung lässt sich auch schreiben als Geschichte ihrer Lieder. Denn gesungen wurde beim Kampf gegen das Kapital immer und von Anfang an, in Arbeiterchören und Arbeitergesangsvereinen, bei Versammlungen und Streiks, auf den Barrikaden, vor Fabriktoren und bei Demonstrationen, zur Erbauung, zum Mutmachen und als Propaganda.

Buch_degenhardt.jpg

Folgerichtig hat Degenhardt nicht nur ein Album aufgenommen, auf dem er zwölf Lieder aus allen Epochen der Arbeiterbewegung – ganz spartanisch nur mit akustischer Gitarre, aber dafür auch weitgehend vom Pathos befreit – neu interpretiert. Er hat auch gleich noch ein Buch geschrieben, in dem er, wie er in der Vorbemerkung verspricht, die „vielen Kämpfe und Niederlagen, Erfolge und Fehlschläge der Arbeiterbewegung“ nachzeichnet und dabei aufzeigt, „wie sich diese wechselvolle Geschichte in den Arbeiterliedern widerspiegelt“.

Wo dabei seine Sympathien liegen und durch welche ideologische Brille er diese ­Geschichte liest, daran lässt Degenhardt keine Zweifel, wenn vom „Monopolkapital“ und vom „klassenkämpferischen Moment“ die Rede ist, von „revolutionären Massen“ und der „Konterrevolution“. Die Prominenten dieser Geschichte heißen Erich Mühsam, Hans Eissler oder Ernst Busch, Degenhardt (Franz Josef, der Vater des ­Autors), Süverkrüp oder Biermann. Die Helden aber sind die oft unbekannten Textdichter und Komponisten, die aus guten Gründen anonym, versteckt im Untergrund, viele der Klassiker verfassten.

Hört man diese Lieder heute, liest man ihre Geschichte, fragt man sich unweigerlich, was sie bewirkt haben. Aber es gilt eben das von Degenhardt zitierte Motto der Internationalen Essener Songtage: „Lieder machen keine Revolution; aber Lieder begleiten Revolutionen.“ Fehlt also bloß die Revolution. Das Warten darauf kann man sich mit dem Singen des vergleichsweise jungen Klassikers der unkaputtbaren Ton Steine Scherben vertreiben: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ Thomas Winkler

CD, Plattenbau; Kai Degenhardt: Wessen Morgen ist der Morgen, PapyRossa Verlag, 215 S., 16,90 €

MUSIK_zingarisssimo.jpg
Promo

Matthias Well/Maria Well/Vladislav Cojocaru: Zingarissimo

Ohne die hohe Musikalität der osteuropäischen Roma-Musiker sind klassische Werke wie die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms nicht denkbar. Und Brahms war nicht der einzige Komponist, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Emotionalität und das Feuer osteuropä­ischer Volksmusik für seine Werke adaptierte. Die Well-Geschwister an Violine und Cello sind Teil der nächsten Generation der bayerischen Musiker-Dynastie Well – quasi Nachfahren der berühmten Musikkabarett-Gruppe Biermösl Blosn. Im Trio mit dem moldawischen Akkordeonisten Cojocaru knüpfen sie an die virtuose Roma-Tradition an: Nicht nur musikalisch, sondern auch familiär, lernten doch Geiger Matthias und Cellistin Maria diese Musik schon früh durch ­ihren aus Ungarn stammenden Großvater kennen. Well & Co. spielen Brahms’ Klassiker, Stücke aus der Feder ungarischer Musiker und einen eigenen Csardas in einer musikantisch-virtuosen Art, die gute Laune macht – auch, weil sie sich mit improvisierten Passagen einen eigenen Reim darauf machen. Statt in sinfonischem Breitbandformat kriegt man hier die Musik in abgespeckten und dafür umso transparenteren Arrangements serviert. Peter Rixen

CD, Fine Music

MUSIK_Ren_Sick-Boi.jpg
Promo

Ren: Sick Boi

Selten wohl endete eine Krankengeschichte so erfolgreich: Ren Erin Gill hatte schon eine bipolare Störung, ein chronisches Erschöpfungssyndrom und Depressionen diagnostiziert bekommen, bevor man endlich herausfand, warum der junge Mann nicht mehr aus dem Bett kam. Seitdem weiß der walisische ­Musiker, dass er an der Autoimmunerkrankung Lyme-Borreliose erkrankt ist, und verarbeitet als Rapper Ren seine Leidensgeschichte in seinen Songs dermaßen mitreißend, dass sein drittes Album mit dem folgerichtigen Titel Sick Boi ­direkt an die Spitze der britischen Charts schoss. Es geht um körperliche Schmerzen und psychische Abgründe, um langwierige Behandlungen, die Lust auf Zerstörung und die Wut auf die, die noch gesund sind. Vor allem in diesem nahezu heiligen Zorn, in diesen herausgespuckten Reimen bringt der 33-jährige Ren den jungen Eminem und die früh vergreisten Sleaford Mods zusammen, während die dunklen Beats dahinschlurfen wie ein OP-Patient, der seinen Infusionsständer missmutig über Krankenhausflure schiebt. Thomas Winkler

The Other Songs/Membran