BUCH_Jugend_Deutschland.jpg
Foto: Aufbau Verlag

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland

In seiner Weitsicht ähnelte er Georg Elser. Wo ein ganzes Land später von nichts gewusst haben wollte, war auch Ernst Toller schon früh klar, dass Hitler den Krieg wollte. Versprochen habe er Freiheit, Glück und Frieden, bekommen habe das deutsche Volk eine korrumpierte Clique von Nichtskönnern und Demagogen. Freiheit meine allein Hitlers Hemmungslosigkeit und die Versklavung des deutschen und jedes anderen Volkes. Nur drei Jahre vor seinem Tod rechnete der 43-jährige Dramatiker und Revolutionär Toller 1936 in einer fulminanten Rede in New York mit den Nationalsozialisten ab. Er bricht deren Agenda ­herunter auf die Realität eines brutalen Raubzugs zu Lasten der Arbeiterklasse: Enteignung, Lohnkürzung bei verdoppelten Lebenshaltungskosten, Zwangsrekrutierung von Arbeitslosen, dazu Judenverfolgung, ihre Vernichtung und Unterdrückung ­jeglicher Opposition. Das Dokument dieser Rede findet sich neben diversen Fotos und Faksimiles in der von Verleger Ernst Piper neu herausgegebenen Ausgabe von Ernst Tollers Autobiographie. Sie gilt als das Hauptwerk des berühmten jüdischen Dramatikers, dessen expressionistische Stücke Masse Mensch und Hinkemann auf den größten Bühnen der Welt gespielt wurden. Toller war damals voll angesagt. Das Vorwort zu Eine Jugend in Deutschland verfasste er 1933 „am Tage der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland“. Ihm war bewusst, dass er nicht nur seine Jugend, sondern die einer ganzen Generation beschrieb.

Wenn Toller beginnt, von seiner Jugend im Geburtsort Samotschin im heutigen Polen zu erzählen, dann packt sein Stil von der ersten Seite an. Er schreibt flott, auf den Punkt und in oft urkomischer Verknappung. Sein Leben würde man heute als Road Movie verfilmen. Im Schützengraben des 1. Weltkriegs dämmert ihm, dass nicht Ehre und Vaterland, sondern das Eisenerz in Belgien Kriegsgrund ist. Er kehrt als Idealist und Visionär zurück, der von einer Wertegemeinschaft gleichberechtigter Länder träumte, „äußerlich gebunden durch ein Minimum an Gewalt, innerlich gebunden durch den Geist des sozialen Verantwortlichkeitsgefühls, durch den Geist der Liebe“. Der 20-jährige taucht ein in die Welt von Kunst und Kultur: Er trifft Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Max Weber und den Novemberrevolutionär Kurt Eisner. Mit dem gründet er die Münchener Räterepublik, wird verfolgt, inhaftiert und berühmt durch seine Theaterstücke und seinen antifaschistischen Kampf. Dessen zunehmende Aussichtslosigkeit macht ihn jedoch depressiv. 1939 gibt er den Kampf durch Suizid in New York verloren. Nicht ohne zu mahnen, dass eine Demokratie sich rechtzeitig zu wehren habe: zum Beispiel durch ein Parteiverbot. Jenny Mansch

DIE ANDERE BIBLIOTHEK/AUFBAU VERLAG 2024, 348 S. MIT ZAHLReichen HISTORISCHEN ABBILDUNGEN, FAKSIMILES UND DOKUMENTEN, 342 S., 48 €

Buch_Arne_Dahl.jpg
Verlag

Arne Dahl: Stummer Schrei

Zuerst explodiert der BMW eines Stahlmanagers während einer Fahrt, dann tötet eine Bombe den Chef einer Werbeagentur, die eine Kampagne für die Ölindustrie leitet. Als die Stockholmer Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman auch noch einen kryptischen Brief bekommt, in dem Rache für die Zerstörung der Natur angekündigt wird, scheint festzustehen: Hinter der Mordserie steckt ein radikaler Klimaaktivist. Wie sich im Verlauf des rasanten Plots zeigt, ist die Lösung jedoch keinesfalls so einfach. Arne Dahl hat mit Eva Nyman und ihrem diversen Team eine faszinierende Truppe erfunden, die mehr auf Kooperation als auf Konkurrenz setzt: Annika Stolt, Shabir Sarwani, Anton Lindberg und Sonja Ryd ermitteln fieberhaft in Kreisen von Aktivist*innen und Großkonzernen. Beim Start seiner neuen Thrillerreihe überzeugt der schwedische Bestsellerautor mit hohem Tempo, kurzen Kapiteln und einer gesellschafts-politischen Relevanz, die in diesem Genre selten ist. Intensive Verfolgungsjagden in der Natur, im Wald, und Hintergründe über die riesigen Serverhallen, die Amazon und Google in Schweden betreiben, sorgen dafür, dass weder Spannung noch Information zu kurz kommen. Günter Keil

Piper, übersetzt von Kerstin Schöps, 464 S., 17 Euro

Buch_C_PAM_ZHANG.jpg
Verlag

C Pam Zhang: Wo Milch und Honig fließen

Europa in naher Zukunft: Ein geheimnisvoller Smog vergiftet fast alle Lebensmittel und macht die Menschen krank. Frisches Obst, Gemüse oder Fleisch gibt es nicht mehr zu kaufen, und die meisten Tiere sterben aus. Doch auf einem Berg im Grenzgebiet zwischen Italien und Frankreich lagert ein Milliardär all das, was verschwunden ist. In riesigen unterirdischen Hallen existiert der Überfluss, aus dem eine Privatköchin exklusive Menüs für Privilegierte zaubert. Die junge Frau widert es eigentlich an, für den dekadenten Kreis zu kochen – da sie jedoch Schulden hat und es keine Restaurants mehr gibt, fügt sie sich den Anweisungen ihres Chefs. Ihr Job besteht auch darin, den Genuss neu zu erforschen und mit Lebensmitteln und Tieren aus geheimen Laboratorien zu arbeiten. Eine riskante Aufgabe inmitten von verwerflichem Luxus, während der Rest Europas vor einer Katastrophe steht. Diese Dystopie glänzt mit unvergesslichen Bildern, einer eleganten, appetitanregenden Sprache und einem außerordentlichen Szenario. Ein süffiger, sinnlicher Roman mit Strahlkraft – über kulinarische Verlockungen und moralische Abgründe in einer sterbenden Umwelt. Günter Keil

S. Fischer, übersetzt von Eva Regul,

272 S., 24 Euro