Ausgabe 03/2007
Die große Verschwendung
Von Manfred Kriener |Arzneimittel für mehrere Milliarden Euro landen jedes Jahr auf dem Müll und in der Toilette. Der mündige Patient zeigt seine Ex- und Hopp-Mentalität
Von MANFRED KRIENER
Arzneimittel im Wert von mehreren Milliarden Euro wandern in der Bundesrepublik jedes Jahr in die Mülltonne oder werden ins Klo gespült. Während das Gesundheitssystem schwer unter dem Kostendruck ächzt und immer neue Reformen hervorbringt, um die tuberkulöse Kassenlage zu sanieren, bleibt die Arzneimittelverschwendung ein ärgerlicher Dauerskandal. Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen sind dramatisch.
Verlässliche Zahlen zu Mengen und Wert der ungenutzten Arzneien sind kaum zu ermitteln. Das Umweltbundesamt (UBA) schätzte noch Anfang der 90er Jahre, dass 30 Prozent aller verordneten Medikamente weggeworfen werden. Inzwischen müssen die Versicherten für ihr Rezept fünf bis zehn Euro zuzahlen und würden deshalb etwas sorgsamer mit ihren Medikamenten umgehen, glaubt Helmut Schröder, Arzneimittel-Forscher beim wissenschaftlichen Institut der AOK. Auch Schröder hält die Verschwendung für gravierend, saubere Zahlen zu den genauen Ausmaßen lägen aber nicht vor.
Mindestens 3,39 Milliarden Euro im Eimer
Florian Keil, Leiter des Forschungsprojekts "Start"(*), das den Umgang der Deutschen mit ihren Medikamenten untersuchte, ist bei seinen Recherchen auf alle möglichen Abschätzungen gestoßen. "Das reicht bis zu 50 Prozent, das wäre jede zweite Packung, die nicht eingenommen, sondern weggeworfen wird." Die untere Grenze verortet Keil bei 10 Prozent Schwund.
Jeder Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen erhielt im Jahr 2005 im Schnitt 8,8 Rezepte ausgestellt. Für die Kassen waren das Ausgaben in Höhe von 23,7 Milliarden Euro (im Jahr 2004: 20,3 Mrd). Dazu kommen aber noch die Ausgaben aus nicht rezeptpflichtiger Eigenmedikation in Höhe von 5,7 Milliarden Euro und die Rezepte für privatversicherte Patienten in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Macht zusammen 33,9 Milliarden Euro. Bei einer angenommenen Verlustrate von zehn Prozent ungenutztem Pharmamüll wären in Deutschland im Jahr 2005 Medikamente im Wert von 3,39 Milliarden Euro weggeworfen worden.
Ärzte, die Medikamente an Bedürftige weitergeben, werden bestraft
Bei der Beseitigung der Arzneien wird die Toilette zu Deutschlands größter Sondermülldeponie. Die "Start"-Forscher ermittelten bei ihrer Befragung, dass 43,4 Prozent aller Deutschen, also fast jeder Zweite, über die Klospülung "gelegentlich" flüssige Arzneimittel beseitigt. 20 Prozent verwenden diesen Entsorgungsweg "immer" oder zumindest "häufig". Bei Tabletten in fester Form ist die Hausmülltonne der bevorzugte Entsorgungsweg, den 16 Prozent der Befragten "immer" bevorzugen. Doch auch bei den Pillen wandert ein Teil ins Klo: 13 Prozent spülen sie "manchmal" in die Kanalisation, drei Prozent machen dies immer so. Da nicht alle Befragten ihre Sünden zugeben, könnte das wahre Ausmaß der Toilettenpraktiken sogar noch größer sein.
Nur ein Teil der aussortierten Arzneien wird jedenfalls in die Apotheken zurückgebracht und über deren Rücknahmesystem entsorgt. 29 Prozent der Deutschen haben in der "Start"-Umfrage erklärt, dass sie diesen empfohlenen Entsorgungsweg "immer" gehen. Doch nur zwei von drei Apothekern sind überhaupt an das Rücknahmesystem angeschlossen, das die eingesammelten Arzneien der normalen Müllverbrennung zuführt. Medikamente gelten von Gesetz wegen als normale "Siedlungsabfälle", eine Spezialentsorgung ist nicht vorgesehen.
Auch die Ärzte nehmen unverbrauchte Arzneimittel nicht zurück. Einige aufmüpfige Mediziner, wie der westfälische Landarzt Bertel Berendes aus Lüdge, die dies trotzdem tun und die Medikamente anschließend an andere Patienten kostenlos abgeben, werden mit Strafverfahren überzogen. Berendes stand deswegen schon zweimal vor dem Richter und wurde zu einer Geldstrafe von 5000 Euro verurteilt. Apotheker hatten ihn angezeigt.
Rund 30000 Tonnen Wirkstoffe, aufbereitet in Pillen, Pulvern und Tropfen, werden von der Humanmedizin jedes Jahr in Umlauf gebracht. Geht man von zehn Prozent Verlust aus, werden 3000 Tonnen ungenutzt weggeworfen, ins Klo gespült oder zum Apotheker zurückgebracht und verbrannt. Neun von zehn deutschen Haushalten besitzen einen eigenen Medikamenten-Vorrat, jeder zweite hat eine richtige Hausapotheke angelegt, in der er bis zu 20 Arzneien aufbewahrt. Mindestens einmal im Jahr wird ordentlich ausgemistet, dann werden die älteren Mittel weggeworfen. Medikamente, die man wegen möglicher Nebenwirkungen nicht einnehmen will, landen meist direkt nach dem Lesen der Beipackzettel in Mülleimern und Toiletten. Weil die Deutschen gleichzeitig eine "stark ausgeprägte Recyclingbereitschaft" mitbringen, so die Ergebnisse der "Start"-Studie, spülen sie die Arzneimittelfläschchen, nachdem ihr Inhalt ins Klo geschüttet wurde, anschließend sauber aus und bringen sie brav zum Glascontainer.
Zum riesigen finanziellen Schaden des Medikamentenschwunds kommt das ökologische Desaster. Über die Toilette gelangen die Arzneimittel in die Umwelt. Dies geschieht zwar auch auf natürliche Weise bei bestimmungsgemäßer Anwendung der Mittel, weil der größte Teil der Wirkstoffe über den Urin wieder ausgeschieden wird. Doch die Medikamentenentsorgung per Klospülung verschlimmert das Problem erheblich. Viele der in der Natur schwer abbaubaren Substanzen passieren die Kläranlagen, landen in Fließgewässern, teils sogar im Grundwasser. Ob Hormone, Antibiotika, Betablocker oder Blutdrucksenker, Schmerzmittel oder Psychopharmaka. Die Umweltfahnder können sie alle in den Gewässern nachweisen. Dazu kommen noch die Tierarzneimittel aus den Agrarfabriken.
Umweltwirkungen sind weitgehend unbekannt
Für Silke Hickmann, Geoökologin beim Umweltbundesamt, sind die Arzneimittelrückstände in den Gewässern inzwischen "gravierender als die Pestizidbelastungen". Die Arzneien seien flächendeckend und ganzjährig überall im Wasser zu finden, sagt Hickmann, einige davon in relativ hohen Konzentrationen von mehr als einem Mikrogramm je Liter. Dazu zählen etwa der Betablocker Metoporol oder das Antiepileptikum Carbamazepin.
Manche Organismen reagieren äußerst empfindlich auf die Arzneimittelreste im Wasser. So wurden wegen Rückständen des Rheumamittels Diclofenac Nierenschäden und Immunschwächen bei Regenbogenforellen entdeckt. In Indien und Pakistan wurde gleich bei drei Geier-Arten ein Massensterben durch die Rückstände des Rheumamittels beobachtet. Und die Spuren aus Millionen Antibabypillen und Hormonpräparaten können schon in kleinster Dosierung die Fruchtbarkeit von Fischen hemmen. Hinzu kommt: Über die Umweltwirkungen der meisten Arzneimittel ist wenig bekannt. Nur für neue Medikamente müssen die Hersteller im Zulassungsverfahren Daten zur Umweltverträglichkeit vorlegen. "Für gerade mal ein Prozent aller Arzneimittel liegen überhaupt Umweltdaten vor", resümiert UBA-Expertin Hickmann.
Was kann getan werden? Die AOK will "den mündigen Patienten" erziehen, will informieren und aufklären. Vor allem die Ärzte, sagt AOK-Forscher Helmut Schröder, müssten mehr mit den Patienten reden, um die Akzeptanz für die von ihnen verordneten Mittel zu verbessern. Michael Jung von der Bundesvereinigung der Apothekerverbände weist auf das Problem hin, dass größere Arzneipackungen meist einen "Mengenrabatt" haben und preisgünstiger sind. Dies führe oft zu unnötig hohen Arzneimengen. Die Ärzte sollten sich stärker an der Wirtschaftlichkeit orientieren. Das Umweltbundesamt träumt - vorerst noch vergeblich - von einer umweltsensiblen Pharmazie wie sie in Ansätzen in Schweden besteht. Dort hat jeder Arzt eine Liste, auf der die Umweltrisiken von Arzneimitteln vermerkt sind. Gegen die Toilettenentsorgung sind allerdings auch schwedische Ärzte machtlos.
* Start - "Strategien zum Umgang mit Arzneimittelwirkstoffen im Trinkwasser" heisst das Forschungsprojekt, an dem mehrere Institute und Universitäten beteiligt sind.
Zum riesigen finanziellen Schaden des Medikamentenschwunds kommt das ökologische Desaster Die Arzneimittelrückstände in den Gewässern sind inzwischen "gravierender als die Pestizidbelastungen"
Silke Hickmann, Geoökologin beim Umweltbundesamt