Der 100-Dollar-Laptop soll Kindern in aller Welt neue Chancen bieten und so den Globus verändern

VON TOM SCHIMMECK

Nicholas Negroponte, 63, ist ein durch und durch moderner Mensch. Der smarte Selbstvermarkter griechisch-amerikanischer Herkunft hat einen langen Weg vom Spinner zum weltweit gefragten Guru hinter sich gebracht. Mitte der 80er Jahre gründete er das "Medialab" am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), bald eine Kathedrale der Computer-Avantgarde. Negroponte wuchs zum Hohepriester der digitalen Welt, erklärte der Menschheit im Bestseller Being Digital (deutscher Titel: Total digital) das Leben im digitalen Morgen. Und doch hatte er am Spinnen stets den meisten Spaß. "Es hat viel mehr Freude gemacht, für verrückt gehalten zu werden", sagte er einmal. "Nun denken alle, ich habe recht, und es wird irgendwie langweilig."

Um solcher Öde zu entrinnen, hat der gelernte Architekt eine neue Idee geboren, simpel und doch weltumspannend: Alle Kinder auf Mutter Erde sollen einen Laptop bekommen - auf dass sie mehr und besser lernen und kommunizieren können. OLPC lautet sein Schlachtruf - One Laptop per Child. "Jedes Problem auf dieser Welt lässt sich auf die eine oder andere Art durch Bildung lösen", glaubt der Professor. Und will die Kinder der Menschheit einloggen, ihnen mehr Wissen und Kommunikation schenken; Fertigkeiten, die ihnen eine bessere Zukunft eröffnen. "Damit die Welt ein besserer Ort wird."

Natürlich weiß auch der weltläufige Negroponte, dass die übergroße Mehrzahl der Kinder weder Mittel noch Möglichkeiten haben, am MIT zu studieren. Oder auch nur in die Nähe eines Computers zu kommen. Doch dank enormer Stückzahlen soll der Kinder-Computer spotbillig werden, Zielgröße: 100 US-Dollar, knapp 80 Euro. Die OLPC-Initiative ist in den zweieinhalb Jahren seit Gründung kräftig vorangekommen. Die Vereinten Nationen stehen hinter der Idee, auch mächtige Sponsoren wie Google, der Chiphersteller AMD oder Rupert Murdochs News Corporation.

Das Logo der Stiftung "One Laptop per Child". Programm und Grundsätze finden sich im Internet: www.laptop.org

Der Prototyp ist ein giftgrünes Wunderding

Das erste Ziel, einen kindgerechten, modernen Computer zu schaffen, vollgepackt mit moderner, robuster Technik, scheint erreicht. Der Prototyp XO ist ein giftgrünes, nur anderthalb Kilo schweres Wunderding mit ausklappbaren Hasenohren. Die Konstrukteure haben sich über die Lebensverhältnisse in der Dritten Welt Gedanken gemacht. Der Rechner ist robust und dank Gummitastatur staub- und wasserfest. Das Gerät verfügt über ein Spezialdisplay, das auch bei hellem Sonnenlicht zu lesen ist. Störanfällige Festplatten und CD-Laufwerke gibt es nicht, nur Flashspeicher und USB-Buchsen. Der Energieverbrauch ist mit sieben Watt minimal. Wird das Gerät zum Lesen, als so genanntes "E-Book" verwendet, verbraucht es angeblich nur 300 Milliwatt. Die E-Book-Funktion wurde von der Wikipedia-Stiftung entwickelt.

Der Clou für Haushalte ohne Strom: Der Energiespeicher lässt sich per Zugseil oder Kurbel wieder aufladen (eine Minute Kurbeln = zehn Minuten Energie). Alternativ könnten einfache, schon heute verfügbare Solarpanels Elektrizität liefern. Oder umgewandelte Fahrraddynamos, die das Gerät auf dem Schulweg aufladen. Tüftler arbeiten auch an ganz neuen Ideen: Batterien etwa, die sich beim Laufen im Schuh aufladen.

Die Hasenohren fungieren als Antennen. Ohne viel Gefummel soll sich der Computer drahtlos und automatisch mit allen in Reichweite befindlichen Laptops verbinden können, durch ein so genanntes "Mesh", ein maschenartiges Netzwerk, in dem jeder mit jedem kommunizieren kann - zu zweit oder in Gruppen. Software für die Unterrichtsstunde könnte wie von Zauberhand auf allen Geräten auftauchen. Über das drahtlose Netz fände, falls vorhanden, auch der Zugang zu Servern und dem Internet statt. Negroponte verspricht den Schulen Server mit 330 Gigabyte Speicherplatz, die ebenfalls nur 100 Dollar kosten. Per Telefon oder Satellit sollen sie mit dem World Wide Web verbunden werden.

Welch ein Sprung. Der erste Computer, der 1941 von Konrad Zuse kreierte Z3, war ein veritables Ungetüm: Er war so groß wie ein Zimmer und wog etwa eine Tonne. Kaum mehr vorstellbar, wenn man die kleinen Notebooks betrachtet, die man sich heute unter den Arm klemmen kann. Obendrein leisten sie vieltausendmal mehr. Und die Preise fallen.

Die Software kann von allen für alle entwickelt werden

Derzeit, sagen die OLPC-Organisatoren, koste ihr Gerät etwa 150 Dollar, vor allem wegen der Speicher. Doch deren Kosten würden bald weiter sinken; bis Ende 2008 soll die 100-Dollar-Marke erreicht sein. Die OLPC-Initiative ist gemeinnützig. Die Software ist "Open Source", das heißt: Sie ist offen und kann von allen für alle weiterentwickelt werden. Die beteiligten Firmen aber, beteuert Negroponte, sollen durchaus Profit machen. AMD liefert den Chip, Red Hat die Software, das Betriebssystem namens "Sugar" - ein abgewandeltes Linux-System. Kein Wunder, dass Marktführer wie Microsoft und Intel wenig erfreut und auf das OLPC-Projekt schlecht zu sprechen sind. Der XO, schimpft Intel-Chef Craig Barrett, sei doch nur "ein Spielzeug". Und schuf ein Konkurrenzprodukt namens "Classmate" (Klassenkamerad), ab 199 Dollar zu haben. Microsoft-Chef Bill Gates kündigte just an, Kindern armer Länder zum Jahresende ein großes Softwarepaket zum Preis von drei Dollar anzubieten.

Der Beginn der Massenproduktion des giftgrünen XO verzögert sich derweil, soll aber noch in diesem Jahr beginnen, in einer neuen chinesischen Fabrik der taiwanesischen Firma Quanta, die etwa 30 Prozent aller Notebooks weltweit herstellt. Das Gerät wird en gros an die Regierungen von Entwicklungsländern verkauft und von diesen an Schulkinder verteilt. Der Startschuss erfolgt, sobald fünf bis zehn Millionen Stück geordert und bezahlt sind. Am Start sind Länder wie Argentinien, Brasilien, Uruguay, Libyen, Nigeria, Äthiopien, Ruanda und Thailand. Erste Tests in Schulklassen laufen bereits

Die Oberfläche symbolisiert die Idee im Prinzip: spielerisches Lernen in großen und kleinen Zusammenhängen

Die Oberfläche symbolisiert die Idee im Prinzip: spielerisches Lernen in großen und kleinen Zusammenhängen

Einfach und klar: Kinder sind im Mittelpunkt. Sie können die Software programmieren - nicht umgekehrt

Weshalb Computer, wenn es nicht mal Toiletten gibt?

Kann der XO tatsächlich zur Wunderwaffe im Kampf gegen die „digitale Kluft" zwischen reichen und armen Ländern werden? Keine Frage: Computer erleichtern das Lernen und bieten kreatives Potenzial, sie erweitern den Horizont, ermöglichen weltweiten Austausch und schaffen so auch neue Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten. Computerfertigkeiten und der Zugang zum Internet werden immer wichtiger. Jeder, der in der falschen Ecke Deutschlands wohnt – in Winkeln, die die Deutsche Telekom für unprofitabel erachtet und darum nur mit antiker Technologie versorgt, hat eine Ahnung davon, was es bedeutet, abgehängt zu sein.

Und doch gab es schon zu Negropontes Medialab-Zeiten Zweifel an dessen von vielen innovationshungrigen Firmen finanzierten Technologie-Vergötterung. Als typisch US-amerikanisch empfinden Kritiker die Methode, die Welt von oben herab mit neuer Technik beglücken und retten zu wollen. Zudem sind für die wirklich Bedürftigen auch 100 bis 150 Dollar ein hoher Preis. Vor allem für bevölkerungsreiche Staaten wie Nigeria. Etwa 45 Millionen Kinder von sechs bis 18 Jahren leben hier. Nur die Erstklässler mit den grünen Negroponte-Geräten auszustatten, so haben kluge Köpfe ausrechnet, würde fast 15 Prozent des Staatshaushalts verschlingen.

Wer wird die Wartung übernehmen? Wer kümmert sich um die Inhalte, die den Kindern geboten werden? Wer schützt all die neuen Schul-Netze vor Betrügern und Verbrechern? Indien (200 Millionen Schulkinder) ist im letzten Sommer offiziell abgesprungen. Das Erziehungsministerium hatte pädagogische Bauchschmerzen. Es gebe da eine Technologie namens Schule, spottete ein indischer Kritiker, „mit einem Klassenraum, einem Lehrer, einer Tafel und, jawohl, einer Toilette. Ein unglaublich hoher Anteil unserer Kinder hat keinen Zugang zu dieser essentiellen Technologie. Das sollte unsere Priorität sein.”

Nicholas Negroponte hat das nicht gerne gehört. Er wittert eine „orchestrierte Kampagne“. Und macht eine andere Rechnung auf: Etwa 1,2 Milliarden Kinder gingen auf dieser Welt zur Schule. Die Hälfte aller Schulen hätten keinen Strom, oft fände der Unterricht unter einem Baum statt. Natürlich müssten mehr Schulen gebaut, mehr Lehrer ausgebildet werden. Ein Kind mit einem XO-Laptop aber habe Zugang zu Millionen Büchern, zu gemeinsamem Lernen und neuen Erfahrungen. „Es ist ein Erziehungsprojekt“, sagt er. „Kein Laptop-Projekt.“ FOTOS: WWW.LAPTOP.ORG