Ausgabe 06/2007
Mission noch nicht erfüllt
Die Aktion "Deine Stimme gegen Armut" fordert Gerechtigkeit im Welthandel - und will Millionen Menschen zum Mitmachen bewegen. Popstars machen’s möglich VON ANNETTE JENSEN
Könige, vergesst die Armen nicht - die weltweite Armut war auf den Protestzügen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm ein zentrales Thema
Eben noch dröhnte es aus den Megaboxen - nun ist es leise. Oben auf der Bühne schnippt eine Frau mit den Fingern. Dann drei Sekunden Pause. Schnipp. Stille. Schnipp. "Alle drei Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen extremer Armut," steht in riesigen Lettern auf einem Transparent, das quer über Schlagzeuge und Mikrofone gespannt ist. Schnipp. Die Zuschauer sollen auch schnippen. Schnipp. Alle drei Sekunden: Schnipp.
Die Botschaft der weltweiten Kampagne "Deine Stimme gegen Armut" ist auch beim diesjährigen Anti-G8-Gipfel-Konzert in Rostock klar und unmissverständlich: Hunger und der Mangel an Medikamenten in vielen Ländern sind kein unvermeidbares Schicksal, sondern Folge politischer Entscheidungen. Weil die EU und USA ihre Landwirtschaft extrem subventionieren, haben afrikanische Kleinbauern keine Überlebenschance. Weil patentierte Medikamente für viele Menschen unbezahlbar sind, sterben sie - obwohl ihre Krankheit heilbar wäre. Bis zum Jahr 2015 soll die extreme Armut halbiert sein. So hat es die UNO 2000 beschlossen. Auch die Industrieländer haben dem zugestimmt. Damit es endlich vorangeht in diese Richtung, sollen möglichst viele Bürger ihre Stimme erheben, so das Konzept von "Deine Stimme gegen Armut".
Mit weißen Bändern am Handgelenk
In über 80 Ländern finden mehr oder weniger regelmäßig Aktionen statt. Mitmachen ist einfach: Unterschriften werden zum Beispiel im Internet gesammelt und auf weißen Bannern, die bei Konzerten oder anderen Massenveranstaltungen aushängen. Wer mag, kann sich auch mit einem weißen Bändchen am Handgelenk zur Aktion bekennen oder am 17. Oktober, dem internationalen Tag gegen Armut, zusammen mit vielen anderen Bürgern überall auf der Welt demonstrativ aufstehen.
Das tun seit Jahren schon Sänger wie Herbert Grönemeyer, Bob Geldof oder Youssou N'Dour aus dem Senegal. Sie gelten - genau wie einige Bischöfe und Schauspieler - als Botschafter der Aktion. "Das hier ist die wichtigste Bewegung seit der Antiapartheidsbewegung", ruft der britische Rockstar Bono beim Anti-G8-Konzert 70000 Zuschauern vor Ort und Millionen am Fernseher zu. Seine Berühmtheit bezeichnet er als "harte Währung" - als Mittel zum Zweck, um Aufmerksamkeit auf die zu lenken, die im Dunkeln stehen.
Während der 47-Jährige kein Problem darin sieht, beim G8-Gipfel vor zwei Jahren eng mit dem britischen Premier Tony Blair zusammenzuarbeiten und sich für sein Engagement zum Ritter schlagen zu lassen, halten die deutschen Stars bewusst Distanz zu Regierungen und Parteien. "Ich bin dazu zu hitzköpfig", begründet das Campino von den Toten Hosen. Herbert Grönemeyer betont dagegen den "Freigeist" von Musik. Er wolle sich nicht von Politikern vereinnahmen lassen, die bei einem Treffen eh nur scharf auf populäre Bilder fürs Fernsehen seien.
Alle drei Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen extremer Armut
Die Initiative für die Aktion stammt freilich nicht von Prominenten, sondern von Organisationen wie Oxfam und ActionAid, die seit Jahrzehnten gegen ungerechten Welthandel und die Verschuldung von Drittweltländern kämpfen. Ein erstes Treffen fand im Herbst 2004 in Südafrika statt - inzwischen machen weltweit etwa 1500 Vereinigungen mit. Neben entwicklungspolitischen Organisationen beteiligen sich auch die Dachverbände von Gewerkschaften. "Es handelt sich um ein globales Netzwerk, das nicht vom Norden dominiert wird", betont Ingo Ritz von einer Bangladesch-Partnerschaftsorganisation in Wetzlar, der beim letzten Jahrestreffen in Montevideo die deutsche Sektion vertrat. Bei aller Unterschiedlichkeit haben die Beteiligten doch einen gemeinsamen Blickwinkel. Sie fragen: Wie wirken sich politische Entscheidungen oder der Klimawandel für Arme aus?
Mit Musik statt Worten
"Wir müssen jede mögliche Form nutzen, um Menschen aufmerksam zu machen auf unsere Anliegen - und Musik spricht viele Leute an, die sonst nicht zuhören würden", sagt Particia Miranda von Jubilee Bolivien, deren Organisation sich seit langem für die Entschuldung armer Länder einsetzt. Dem stimmt im Prinzip auch Kjetil Abildsnes von der norwegischen Nichtregierungsorganisation Slug zu. "Bei dem weltweit übertragenen Konzert vor zwei Jahren haben viele Leute zum ersten Mal mitgekriegt, dass es nicht um Mildtätigkeit geht, sondern um Gerechtigkeit." Dass Bob Geldof jedoch anschließend spontan und ohne Sachkenntnis die Beschlüsse des G8-Gipfels mit "Mission erfüllt" kommentiert hat, regt Kjetil Abildsnes noch heute auf. "Viele dachten, das Schuldenproblem sei jetzt erledigt und wir wurden dauernd gefragt, warum wir denn immer noch davon anfingen." Auch die Geschäftsführerin des Deutschen Entwicklungspolitischen Dachverbands Venro, Ulla Mikota, fand das damals alles "politisch ärgerlich". Doch zugleich ist sie davon überzeugt, dass es ohne die Stars kaum gelungen wäre, das Thema Armut in Afrika aus der Nische in die breite Öffentlichkeit zu ziehen. Inzwischen klappt die Abstimmung mit den Prominenten jedoch viel besser; beide Seiten haben gelernt.
Es kostet nichts
Ob ein Popkonzert nicht zu profan sei für das Thema "alle drei Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen extremer Armut" hat auch die Medizinstudentin Amina eine Weile lang umgetrieben. Letztendlich hat sie sich aber doch eine Karte für das Anti-G8-Konzert in Rostock gekauft. "Im Prinzip ist das ja auch so etwas wie eine Demo", meint die 26-Jährige, die während der Gipfeltage zahlreiche politische Veranstaltungen und auch einen Gottesdienst besucht hat. Dagegen sind die beiden Frauen mittleren Alters, die aus dem 50 Kilometer entfernten Grimmen angereist sind, nicht wirklich an der Botschaft interessiert. "Das hier ist die einmalige Chance, solche Stars mal für 2,50 Euro zu sehen," begründen sie ihre Anwesenheit. Dass zwischen den Songs ab und zu mal was über Afrika erzählt werde, sei schon okay - und unterschreiben werden sie dann wohl auch. Es kostet ja schließlich nichts.
Wer bezahlt - und wann?
Große Zahlen, wenig Substanz, so lassen sich die Ergebnisse des G8-Gipfels zur Armutsbekämpfung zusammenfassen. In Heiligendamm versprachen die Politiker der reichsten Industriestaaten 60 Milliarden Dollar für die Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose. Doch wer wird das bezahlen - und wann? Das blieb am Ende des Gipfels unklar. Misstrauen ist angesagt. Denn auch die vollmundigen Zusagen, die die G8 vor zwei Jahren bei ihrem Treffen im schottischen Gleneagles zur Erhöhung der Entwicklungshilfe abgegeben hatten, werden bisher nicht eingehalten. Im Gegenteil - bei realistischer Betrachtung sind die Mittel in den vergangenen beiden Jahren sogar gesunken. Nur durch die Vermischung von Schuldenerlass und Entwicklungshilfeetats ist ein günstiges Bild entstanden. "Kreative Buchhaltung kann kein Menschenleben retten - nur die Einhaltung der Versprechen kann dies tun", schreibt Oxfam. Viele Kritiker hatten vergeblich gefordert, dass die G8 in Heiligendamm einen konkreten Zeitplan für die in Gleneagles zugesagten Hilfen vorlegen.
Die Armut fördernden Strukturen in der Weltwirtschaft wurden in Heiligendamm ebenfalls nicht thematisiert. Eine wie auch immer geartete Regulierung der hochspekulativen Hedge-Fonds lehnte die G8 ab. Dabei ist das "derzeitige finanzmarktorientierte Wirtschaftssystem verantwortungslos gegenüber den Beschäftigten, sozial Schwachen und der Umwelt weltweit", fasst die entwicklungspolitische Organisation weed zusammen. Auch der G8-Plan, geistige Eigentumsrechte für Medikamente auf Schwellenländer auszuweiten, wird viele Kranke in armen Ländern das Leben kosten. Denn ein Großteil der Staaten ist nicht in der Lage, selbst Generika herzustellen. In den vergangenen Jahren bekamen sie günstige Medikamente insbesondere aus Indien. Wenn die Medikamente von dort demnächst so teuer werden wie in Europa, wird selbst der von der G8 angekündigte 60-Milliarden-Dollar-Topf nicht weit reichen. AJE