Afghanistan - ein Land, in dem eine Frau immer noch als Eigentum des Mannes gilt

Fotos: Lana Šlezic / PanosPictures

Eine Prostituierte in Kabul. Vielen Witwen bleibt nur dies, um ihre Kinder zu versorgen. Werden sie entdeckt, können ihre Familien sie töten - aus Gründen der Ehre

"An vorderster Stelle den Frauen ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben" - so begründete im November 2001 der damalige Außenminister Joschka Fischer den Beschluss der rot-grünen Bundesregierung, sich an dem Einmarsch internationaler Truppen in Afghanistan zu beteiligen. Ziel verfehlt, kritisieren nun die Hilfsorganisationen medica mondiale und Terre des Femmes. "Unsere afghanischen Kolleginnen berichten, dass sich die Situation der Frauen seit dem Sturz der Taliban kaum verbessert hat", sagt Christa Stolle, Geschäftsführerin von Terre des Femmes. Zwar sind die Frauen nun laut Verfassung gleichberechtigt, doch ihre Realität ist eine andere. Die Müttersterblichkeit in Afghanistan ist die zweithöchste der Welt, etwa 80 Prozent der Frauen und Mädchen werden zwangsverheiratet und die Hälfte der Gefängnisinsassinnen wird aufgrund so genannter "moralischer" Verbrechen eingesperrt - also wegen vermeintlichen Ehebruchs oder Weglaufens von Zuhause, heißt es in einem Bericht von medica mondiale. Ebenso gehörten Gewalt und Rechtlosigkeit in der Familie weitgehend zum Alltag. Lebensumstände, die viele junge Frauen in den Selbstmord treiben.

Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale, kritisiert vor diesem Hintergrund die mangelnde Zivilhilfe aus Deutschland: "Weniger als ein Viertel der jährlich 530 Millionen Euro aus Deutschland fließt in den zivilen Aufbau, der große Rest geht in den Militärhaushalt - dieses Verhältnis muss sich ändern; und es muss ein viel größerer Teil für die Unterstützung von Frauen bereitstehen."

Nach Angaben der Bundesregierung sind 2002 bis 2010 für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans über 900 Millionen Euro angesetzt, der Einsatz der Bundeswehr kostete bislang 1,9 Milliarden Euro.

Der Fotoband Verleugnet - Frauen in Afghanistan von Lana Šlezic erschien 2007 bei Edition Braus, Heidelberg

Die Autorin wurde kürzlich mit dem World Press Photo Preis ausgezeichnet (<3. Preis in der Kategorie Porträts/Geschichten)


Die allein wohnende Sabza Gul ist vor ihrer Haustür auf eine Landmine getreten. Ihre Prothesen hat sie auf dem Tisch abgelegt

Malalai war die erste Polizistin in Kandahar. Sie ist unter ihrer Burka immer bewaffnet


Gulsuma wurde mit vier Jahren verkauft und zwangsverheiratet, heute lebt sie in einem Mädchenhaus

Gulsuma

Eines Morgens in Kandahar besuchten Farzana und ich die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC). "Möchten Sie ein Mädchen kennen lernen, das mit vier Jahren verheiratet wurde?", fragte mich die Vertreterin der Frauenabteilung. "Mit vier Jahren?", wiederholte ich geschockt. Die Frau nickte, und so trafen wir Vorbereitungen, Gulsuma zu besuchen, die mittlerweile elf war und einige Wochen zuvor von der Polizei in ein Waisenhaus gebracht worden war. Das Waisenhaus war praktisch eine Ruine. Ein Mann mit einem weißen Bart, der ihm bis zum Nabel reichte, und einem Rückgrat, das eher einem Angelhaken glich, führte Farzana, eine Vertreterin des AIHRC und mich zu Gulsuma.

Farzana klopfte. Ein Schlüssel rasselte im Schloss, und dann öffnete sich langsam die Tür. Den meisten Platz im Zimmer nahm ein verrostetes Bettgestell ein, auf dem eine alte, dünne Matratze lag. Gulsuma saß darauf, die Beine übereinander, ihre Füße baumelten über dem Boden.

Sie lächelte uns an. Ihr dunkles, verworrenes Haar war unter einem leichten braunen Tuch versteckt und ihre harten Gesichtszüge ließen sie eher wie eine Frau denn wie ein Kind wirken.

Sie schob ihre Hand in meine und zog mich zu sich auf das Bett. Ich betrachtete ihre Hände. Sie waren rau, wie Farmerhände.

Obwohl ihre Lippen lächelten, wirkten Gulsumas dunkle Augen müde. Da nur wir Frauen im Raum waren, legte sie wie beiläufig ihren Chador ab, und ich musste einen Schrei unterdrücken. Auf Gulsumas Kopf gab es eine vernarbte, flache Stelle, wo kein Haar mehr wuchs. Ohne ihre Hand loszulassen, zwang ich mich zu einem Lächeln und deutete, weil ich Ablenkung suchte, auf eine Kiste am Boden. Es war ein kleiner metallener Koffer, auf den Gulsuma eine Landschaft gemalt hatte - in lebhaften Grün-, Blau-, Rot- und Gelbtönen, den Farben eines Ortes, an dem sie höchstwahrscheinlich lieber gewesen wäre als hier.

Gulsuma beugte sich vor und schloss den Koffer auf, der uns ein paar Strümpfe offenbarte, Unterwäsche, einen weiteren Shalwar und ein Kleid, Sandalen und einen großen Umschlag. Aus diesem Umschlag zog Gulsuma nun eine Röntgenaufnahme und zeigte auf etwas, das sich als ihr Unterschenkel herausstellte.

"Er hat mir die Knöchel gebrochen", sagte sie in Pashtu, der Sprache, die man im Süden spricht. Erst später dämmerte mir, dass sie sie als Beweismittel aufbewahrt hatte.

Die Vertreterin der Menschenrechtskommission setzte sich neben mich und bat Gulsuma, mir auch ihre anderen Narben zu zeigen. Gulsuma gehorchte und zog ihren Shalwar aus. Mir drehte es den Magen um. Es war, als wäre die Haut ihres Rückens und ihrer Arme zur Leinwand für jemandes ungezügelten Zorn geworden.

Gulsuma hatte ihren Vater nie kennen gelernt, er war gestorben, als sie ein Jahr alt war. So wie in Afghanistan üblich, hatte es nicht lang gedauert, bis ihre Mutter erneut geheiratet hatte. Als Gulsuma vier war, hatte sie ihr Stiefvater für 3000 Afghani (60 US-Dollar) an eine Familie in einem Dorf außerhalb von Kandahar verkauft. An das Hochzeitsfest erinnerte sie sich nur vage, daran, dass die Frauen ihre Hände mit Henna bemalt hatten.

Die Misshandlungen hatten direkt nach der Hochzeit begonnen. Ihr Ehemann, der zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt war, war der einzige gewesen, der sie nicht anrührte. Der Rest der Familie hatte sie mit Kabelsträngen ausgepeitscht und mit Steinen und Holzscheiten verprügelt. Sie hatten ihr verdorbene Nahrung gegeben. Im Winter hatten sie Gulsuma gezwungen, draußen zu stehen, und sie mit kaltem Wasser überschüttet, während sie ihre Wäsche wusch. Sie hatten ihr die Hände zusammengekettet und sie in einem dunklen Zimmer eingeschlossen.

Diese Worte sprach sie ohne jegliche Emotion, ganz so, als würde sie die Geschichte eines anderen aus der Zeitung vorlesen.

Eines Morgens, als sie elf Jahre alt war, vermisste ihr Schwiegervater seine Uhr. Er hatte sie gefragt, ob sie sie genommen habe. Als sie verneint hatte, hatte er gedroht, sie umzubringen, sollte sie die Uhr nicht wieder beischaffen können. Im festen Glauben, dass er sie töten würde, war Gulsuma in dieser Nacht davongelaufen.


Deljan am Grab ihrer Tochter, die angeblich Selbstmord begangen hat

Deljan

Farzana, meine Übersetzerin, rief mich an einem verregneten Morgen an und erzählte mir von einer Frau, die sich angeblich selbst angezündet und ihren nackten, brennenden Körper aus einem Fenster im zweiten Stock geworfen hatte. Wir machten uns auf den Weg.

Am Haus angekommen, konnte Farzana eine alte Frau überzeugen, uns zu der Familie zu bringen. Wir folgten dem wogenden Rock der Frau die Treppen hinauf und traten durch eine Tür.

Während wir da saßen, in der Wärme eines alten Holzofens, waren wütende Stimmen im Zimmer zu hören. Eine Frau, Deljan, wie ich später erfuhr, hatte Streit mit ihrem Schwiegersohn. Die Frau, die in der Nacht zuvor gestorben war, war Deljans Tochter. Ihr lebloser Körper war nackt auf dem Asphalt gefunden worden, die Haut verkohlt und rot.

Ich beobachtete, wie Deljan schluchzte, das Gesicht abgewandt von ihrem Schwiegersohn, der ihre Hände festhielt und sie anflehte, ihm zu glauben, dass ihre Tochter Selbstmord begangen hatte. Beharrlich und voller Bitterkeit beschuldigte sie ihn des Mordes. Für einige Zeit flogen Fragen und Antworten hin und her wie schwere Steine. Plötzlich erhob sich Deljan, erschöpft vor Trauer, und schrie ihren Schwiegersohn an, die Tränen ihrer Wut zischten auf dem Holzofen, sie machte sich los und lief aus dem Raum.

Wir fanden Deljan auf einer Betonplatte sitzend, dort wo ihre Tochter gestorben war. Sie weinte und Farzana legte einen Arm um ihre Schulter. Wir fuhren sie nach Hause und blieben den Nachmittag bei ihr. Als wir in ihrer winzigen Küche saßen, zeigte sie uns Hochzeitsfotos ihrer Tochter. Deljan sprach mit großer Gefühlsregung von ihrer Tochter und verneinte immer wieder, dass diese zu einem Selbstmord fähig gewesen wäre. Aber trotz allem war sie, Deljan, es gewesen, die mit der Eheschließung einverstanden gewesen war. Sie war es gewesen, die ihre Tochter mit einem Mann verheiratet hatte, von dem sie nun dachte, dass er fähig sei, einen Mord zu begehen. Farzana und ich tranken den Tee, den Deljan uns anbot, und aßen die schon etwas älteren Kekse. Deljans runzeliges Gesicht war sichtbar müde und die Energie, die sie aufgebracht hatte, um ihre Trauer zu teilen, war verschwunden. Als wir aufbrachen, lud sie uns ein, am Freitag mit ihr auf den Friedhof zu fahren. Es sei ihr erster Besuch am Grab ihrer Tochter.

Am Freitagmorgen sammelten wir Deljan und ihren Sohn ein, der uns den Weg zum Friedhof beschrieb. Als der Wagen langsam ausrollte, sah ich mich um und entdeckte nichts als zerstörte Gebäude auf der einen Straßenseite und Hügel von schneebedecktem Dreck auf der anderen. Es gab kein Tor, kein Schild, keinen Zaun, keinen Hinweis überhaupt, dass dies eine Stätte des Respekts für die Toten war. Vom Auto konnte ich kaum die Grabsteine ausmachen, die klein, kahl und nur grob zugeschnitten waren.

Ich fragte mich, wie Deljan ihre Tochter jemals finden wollte. Ein Hügel ging in den nächsten über wie die Buckel auf einer Skipiste, und der Schnee verdeckte alles zusätzlich. Aber Deljans Sohn war auf der Beerdigung gewesen und wusste, wo seine Schwester begraben war. Er führte Deljan, der Saum ihrer Burka schleifte im Schnee und Schlamm hinter ihr her.

Zu uns gewandt, das Grab zu ihren Füßen, zog Deljan ihre Burka zurück, so dass sie auf ihrem Kopf ruhte. Dann fiel sie auf die Knie. Ihr Sohn ging ein Stück weiter und ließ seine Mutter in Ruhe trauern.

Mit der bloßen Hand fegte sie den Schnee zur Seite, mit derselben Zärtlichkeit, mit der sie wohl auch einst die Haare ihrer Tochter gekämmt haben mochte. Sie erhob ihre Hände und ihr Gesicht zum Himmel, ihre Tränen glitzerten im Sonnenlicht, ihre Gebete erklangen mit flacher, gebrochener Stimme.

Dann warf sie ihren Körper auf das Grab, den Stein in beiden Handflächen, und lag da im Schnee, schluchzend, ihre Stirn gegen die kalte Platte gepresst.

Ich hatte nichts getan, um die Intimität dieses Moments zu verdienen. Ich sah Deljan zu, wie sie kleine Blumen um den Grabstein herum drapierte, sich dann endlich aufrichtete und den Schnee und den Schmutz von ihren Kleidern abklopfte.

Sie zog ihre Burka wieder über ihren Kopf und ging zur Straße, war ganz still auf dem Heimweg, ihr Schmerz versteckt hinter ihrem dünnen, blauen Schleier.