Erst feuern, dann heuern – nach diesem Prinzip behandelt die private Krankenhausgesellschaft Ameos ihre Beschäftigten in der Psychiatrie Neustadt in Schleswig-Holstein. Sie entlässt Schwestern und Pfleger, Küchen- und Wäscherei-Angestellte, um sie durch die hauseigene Leiharbeitsfirma billiger wieder einzukaufen. Eine Geschichte über Angst vor Entlassung und Wut über die Missachtung von Arbeit

von ANDREAS MOLITOR (Text) und MICHAEL HUGHES (Fotos)

"Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung bewusst", heißt es bei Ameos

Was ist Arbeit wert? Auf dem Warnstreik gegen Ameos

Der Fotograf ist frustriert. Fast vier Stunden ist er unterwegs gewesen, von Berlin bis nach Neustadt an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Und jetzt darf er nicht fotografieren. "Auf keinen Fall", hat Katja Lüders* gerade klargestellt. "Ein Foto von uns in der Gewerkschaftszeitung - da können wir auch gleich zur Geschäftsführung gehen und um unsere Entlassung bitten." "Vielleicht ein paar Bilder von Ihrer Station in der Klinik", versucht der Fotograf es vorsichtig noch einmal. "Damit man wenigstens einen Eindruck von Ihrem Arbeitsalltag bekommt." Aber Katja Lüders weiß, dass die Klinikchefs sie über solche Fotos identifizieren könnten. Und das will sie unbedingt vermeiden. Deshalb heißt sie hier auch Katja Lüders. In Alltagskluft statt im Schwesternkittel kommt sie nach ihrer Schicht zum Gespräch ins Betriebsratsbüro, auf sicheres Terrain. Vor dem Betreten des Gebäudes guckt sie trotzdem scheu zur Seite, als wolle sie sich noch einmal versichern, dass sie auch nicht gesehen wird. Wer zum Betriebsrat geht, macht sich hier verdächtig.

Katja Lüders‘ Vorsicht hängt mit dem merkwürdigen Stellenangebot zusammen, das sie vor kurzem bekommen hat. Per Brief wurde ihr ein neuer Arbeitsplatz zugesichert - auf den sie sich gar nicht beworben hatte. Nicht einmal ein Anruf beim künftigen Arbeitgeber sollte nun mehr nötig sein. "Wenn wir in den nächsten zwei Wochen von Ihnen keine Nachricht erhalten", las die 25-jährige Krankenschwester verblüfft, "gehen wir davon aus, dass Sie mit unserem Vorschlag ein- verstanden sind." Über so einen Brief freut man sich - unter normalen Umständen jedenfalls.

Aber die Umstände sind nicht normal. Die angebotene Stelle im psychiatrischen Klinikum Neustadt, vor mehr als hundert Jahren als "Landesirrenanstalt" auf dem Gelände einer Zuckerfabrik errichtet, ist ihr bestens vertraut. Es ist ihr eigener Arbeitsplatz, den sie Ende September zunächst räumen muss, wenn ihr auf zwei Jahre befristeter Vertrag ausläuft. Anschließend soll sie zurückkehren - aber nicht irgendwohin in das weitläufige Ensemble aus Alt- und Neubauten, sondern auf die gleiche Station, ins gleiche Team, zu den gleichen Kollegen und Patienten. Dabei hat ihr bisheriger Arbeitgeber, die zum Schweizer Klinikkonzern Ameos gehörende Ameos Krankenhausgesellschaft Holstein mbH, ausdrücklich keine Verwendung mehr für Katja Lüders. Eine Weiterbeschäftigung sei "aufgrund von Umstrukturierungen leider nicht mehr möglich", schreibt die Gesellschaft - und kontert gleich im nächsten Satz mit dem neuen Job-Angebot: "Wir möchten Ihre Bewerbung dennoch berücksichtigt wissen und würden Sie gern an die Ameos Servicegesellschaft Holstein mbH weiterleiten."

Verwirrendes Manöver

Inzwischen weiß Katja Lüders, dass sich hinter dem verwirrenden Manöver weit mehr verbirgt als nur ein Wechsel des Firmennamens. Die Servicegesellschaft ist eine Zeitarbeitsfirma unter dem Dach der Ameos-Gruppe. Systematisch heuert sie derzeit Mitarbeiter der Krankenhausgesellschaft an, deren befristete Verträge auslaufen und verleiht sie anschließend an ihren früheren Arbeitgeber, damit sie in ihrem bisherigen Job weiterarbeiten - allerdings zu ganz anderen Bedingungen.

Über die genauen Konditionen des Wiedereinstiegs in den alten Job hütet die Servicegesellschaft bislang Stillschweigen. Auch Katja Lüders hat kein konkretes Angebot vorliegen. Wenn sie die Offerte nicht ausdrücklich zurückweist, ist sie bei der Servicegesellschaft angestellt - ohne zu wissen, was sie dort verdienen wird.

Klar ist nur: Es wird auf jeden Fall deutlich weniger sein als bisher. In Stellenausschreibungen auf der Ameos-Homepage findet sich versteckt der Hinweis auf eine Bezahlung nach dem Tarif des Interessenverbands deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ). Sollte dies das letzte Wort der Ameos Servicegesellschaft zum Thema Lohn sein, würde Katja Lüders im Vergleich zu ihrem alten Vertrag monatlich mehr als 16 Prozent einbüßen. Für ihre Entgeltgruppe weist der iGZ-Tarif, einschließlich Zulagen, ein Bruttogehalt von 1468,17 Euro aus. Bisher verdient sie knapp 1800 Euro - und das sind schon 200 Euro weniger als der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TVL) vorsieht. Als Leiharbeiterin stünden Katja Lüders außerdem deutlich niedrigere Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit zu als bisher, so dass sie unterm Strich vermutlich zwischen 400 und 500 Euro monatlich verlieren würde. "Ich will jetzt endlich mal wissen, was die mir konkret anbieten", sagt sie und baut für den schlimmsten Fall schon mal vor: "Wenn es so kommt, wie ich befürchte, bin ich hier weg. Für noch weniger Lohn als bisher kann man diesen Job nicht machen. Das ist einfach eine Missachtung der harten Arbeit, die wir hier auf der geschlossenen Abteilung leisten."

Ein harter Job

Am Morgen war es wieder einmal so weit. Katja Lüders ging gerade von Zimmer zu Zimmer, um die Medikamente auszuteilen, als plötzlich Alarm gegeben wurde. Ein abends zuvor eingelieferter Patient schlug um sich und schrie; zwei Schwestern konnten ihn nicht bändigen. "Zu viert mussten wir ran", schildert die Krankenschwester, "es dauerte trotzdem zehn Minuten, bis wir ihn fixiert hatten. Danach ist man jedesmal völlig fertig."

Den Standardbrief der Ameos Krankenhausgesellschaft mit dem Angebot, in die Servicegesellschaft zu wechseln, erhalten gegenwärtig fast alle Mitarbeiter, deren meist auf zwei Jahre befristete Verträge in den nächsten Monaten auslaufen. Allein am Ameos-Standort Neustadt könnten auf diese Weise bis Ende nächsten Jahres 150 bis 160 Beschäftigte in die Servicegesellschaft überführt werden, im nahegelegenen Heiligenhafen weitere 120. Langfristig sollen offenbar nur die Ärzte und Psychologen bei der Krankenhausgesellschaft bleiben. Für alle anderen - Krankenschwestern und -pfleger, Verwaltungskräfte, Putzkolonnen, Küchen- und Wäschereiarbeiter - peilt Ameos die kollektive Runterstufung in die Servicegesellschaft an.

Neuzugänge sollen gar nicht erst mit der Krankenhaus- gesellschaft in Kontakt kommen. Auf der Firmen-Homepage, auf der Ameos sein "innovatives Personalmanagement" preist, werden Bewerber gleich an die Servicegesellschaft verwiesen. Die sucht aktuell fünf neue Mitarbeiter für die Kranken- und Altenpflege.

Unter der Neustädter Belegschaft machen sich Unsicherheit und Misstrauen breit. Noch hat niemand von der Servicegesellschaft ein konkretes Angebot erhalten. Was sollen sie tun? Abwarten? Erstmal bei der Servicegesellschaft anheuern, egal wie schlecht die zahlt, weil es immer noch besser ist als gar keine Arbeit zu haben? Vor Gericht auf Einstellung bei der Krankenhausgesellschaft klagen? Zum Betriebsrat gehen? Noch können sie das. Bei der Servicegesellschaft gibt es keinen Betriebsrat.

Die Arbeitsverleiher setzen unterdessen auf Zermürbung. Katja Lüders‘ Stationskollegin Nadine Schwarz, deren Arbeitsverhältnis Ende Juli endet, hat sich bei der Servicegesellschaft beworben, weil sie sich nicht auf die Zusicherung verlassen wollte, automatisch in die Zeitarbeitsfirma zu wechseln. Sechs Wochen nach ihrer Bewerbung erhielt sie eine Eingangsbestätigung mit der vagen Aussage, bei Interesse werde man sich melden. Kein Vorstellungsgespräch, kein Gehaltsangebot, kein Anruf, nichts. Einige Krankenschwestern und Pfleger haben bereits gekündigt, andere spielen mit diesem Gedanken und schauen sich in der Region nach Alternativen um. Ernüchtert stellten sie fest, dass auch andere Klinikträger mittlerweile Servicegesellschaften gegründet haben, die nach iGZ-Tarif einstellen. Allerdings ist keiner so dreist wie Ameos, bisherige Mitarbeiter zu weit schlechteren Bedingungen auf ihre alten Stellen zu setzen.

Bei Ameos vollzog sich die Tarifflucht in mehreren Etappen. Nach der Privatisierung vor drei Jahren, als die Unternehmensgruppe das damalige Psychatrium vom Land Schleswig-Holstein kaufte, ging der Konzern zügig dazu über, neue Mitarbeiter nicht mehr nach dem Bundesangestelltentarif (BAT) einzustellen, dem Vorgänger des TVL, sondern fast nur noch individuelle Arbeitsverträge abzuschließen - zu Löhnen, die 20 bis 40 Prozent unter BAT-Niveau liegen. Nikolaus Brechtken, ein altgedienter Krankenpfleger, erinnert sich noch gut, wie belastend die Situation vor Weihnachten war. "Freut euch nicht zu laut, wenn ihr eure Gehaltsbescheinigung aufmacht", hat er zu den "BAT-Kollegen" gesagt, die noch Weihnachtsgeld bekommen. "Schaut, wer neben euch steht. Mindestens die Hälfte von uns bekommt kein Weihnachtsgeld mehr."

Mit der Gründung der Servicegesellschaft wandelte sich das Zwei- zum Dreiklassensystem. Auf Brechtkens Station arbeiten Pfleger und Schwestern mit Altverträgen nach BAT, solche mit frei ausgehandelten Löhnen und mittlerweile auch schon die ersten Leiharbeiter in Diensten der Servicegesellschaft.

Die mittlerweile obligatorische Befristung der Jobs auf zwei Jahre hat besonders in der Pflege schlimme Folgen. In den Teams herrscht ständig Unruhe, weil immer wieder neue Kolleginnen und Kollegen eingearbeitet werden müssen. Viele von ihnen hatten noch nie mit Psychiatrie-Patienten zu tun. "Die wissen gar nicht, wie sie sich in Extremsituationen verhalten sollen", sagt Katja Lüders. "Wenn ein Patient ausbüchsen will oder handgreiflich wird wie heute morgen, muss sich im Team einer auf den anderen verlassen können. Jeder muss wissen, was er zu tun hat. Die neuen Kollegen wissen ja oft nicht mal, wie die Gurte an den Fixierungsbetten korrekt angebracht werden."

Längst spüren auch die Patienten die Folgen des Spardiktats. Pfleger und Schwestern haben kaum noch Zeit für sie. Gern würden sie mit ihnen kochen oder backen. Eine Geschichte vorlesen. Sich anschauen, was sie in der Ergotherapie gemalt oder gebastelt haben. "Früher konnte ich mit ihnen rausgehen, im Garten spazieren gehen, ihnen zuhören, sie durch die Erkrankung begleiten", sagt Nikolaus Brechtken. "Heute ist nur noch eine Grundversorgung möglich: Füttern, Medikamente verabreichen, nachsehen ob sie noch sauber sind und welche Betten frisch bezogen werden müssen, hier und da einen Patienten fixieren." Manche Stationen konnten monatelang keine Ausgänge anbieten, weil sie zu schwach besetzt waren. Die Patienten müssen drinnen bleiben - auch wenn draußen die Sonne scheint.

Klarer Gegenkurs des Betriebsrats

Die Ameos-Strategie, Mitarbeiter zu deutlich niedrigen Löhnen über die Servicegesellschaft weiter zu beschäftigen, drückt auf die Stimmung in den Teams. "Morgen hab‘ ich wieder ein Vorstellungsgespräch in einer anderen Klinik", sagt Katja Lüders. "Da bin ich heute schon den ganzen Tag mit meinen Gedanken. Das spüren natürlich auch die Patienten. Ich kann doch nicht freundlich lächeln, wenn ich Sorgen hab‘."

Die Empörung der Belegschaft hat der Gewerkschaft enormen Zulauf verschafft. Vor Gründung der Servicegesellschaft lag der Organisationsgrad in Neustadt bei knapp 30 Prozent, mittlerweile sind schon zwei Drittel der Beschäftigten bei ver.di. Ameos gründete die Servicegesellschaft mitten in die laufenden Tarifverhandlungen hinein. Der Wink war mehr als deutlich. Das Unternehmen gibt vor, man habe die Servicegesellschaft sozusagen aus Notwehr ins Leben gerufen, weil die von ver.di geforderte Entlohnung der Mitarbeiter nach TVL die Existenz der Kliniken bedrohe. Eine wenig überzeugende Argumentation: In Bremen und Haldensleben existieren schon Ameos-Servicegesellschaften nach dem gleichen Muster - ohne dass es dort Tarifverhandlungen gegeben hätte.

Die Gewerkschaft rät dem Neustädter Betriebsrat, einen klaren Kurs zu fahren: Keine Zustimmung zur Einstellung von Mitarbeitern über die Servicegesellschaft. "Die Kollegen, deren Verträge auslaufen, sollten sich bei der Krankenhausgesellschaft auf ihre bisherigen Arbeitsplätze bewerben, nicht bei der Servicegesellschaft", rät der zuständige ver.di-Tarif- koordinator Oliver Dilcher. "Dann stimmt der Betriebsrat der Einstellung zu. Kommt der gleiche Kollege aber als Leiharbeiter, wird der Betriebsrat seine Zustimmung verweigern." In einigen Fällen ist es schon genau so gekommen. "Dann schlucken die Kollegen erstmal, manchmal fließen auch Tränen", weiß Dilcher aus vielen Gesprächen mit dem Betriebsrat, "aber die meisten sagen: Das ist richtig, dass ihr das so macht, dass ihr die Leiharbeit nicht duldet." Zu diesem Nichtdulden gehört auch, dass mehr als 300 Ameos-Beschäftigte Mitte Juni vor dem Klinikeingang protestierten. Die Patienten wurden mit einer Not-Schicht versorgt.

Letztlich geht es hier um die Frage, was Arbeit wert ist, woran sich ein fairer Lohn für gute Arbeit bemisst. Krankenschwestern und Pfleger in der Psychiatrie arbeiten regelmäßig nachts und sonntags, häufig haben sie es mit störrischen, unberechenbaren und aggressiven Patienten zu tun. In diesem Jahr wurden in Neustadt allein bis Ende April mehr als 30 körperliche Übergriffe von Patienten auf das Personal gemeldet. Hier ein Tritt in den Bauch, dort ein verdrehter Finger. Kürzlich bekam ein Pfleger von einem Patienten, der flüchten wollte, einen Blumentopf ins Gesicht. Das Resultat war ein doppelter Jochbeinbruch. "Und das alles für 1474,23 Euro brutto?", empört sich Katja Lüders. "Bislang hab‘ ich den Beruf wirklich gern gemacht. Ich konnte mir keinen anderen vorstellen. Aber wenn das die Wertschätzung ist, die mein Arbeitgeber meiner Arbeit entgegenbringt, bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als mir schnell etwas anderes zu suchen." Sagt sie und verlässt das Betriebsratsbüro in Eile. Morgen will Katja Lüders fit sein für ihr Bewerbungsgespräch. Für alle Fälle.

*Namen aller Beschäftigten geändert

Die Ameos-Gruppe mit Sitz in Zürich zählt zu den größten Trägern psychiatrischer Einrichtungen in Europa. An 35 Standorten (davon 22 in Deutschland) beschäftigt der im Jahr 2002 gegründete Klinikkonzern rund 5500 Mitarbeiter in Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken sowie Pflege- und Eingliederungseinrichtungen. Zur Ameos Krankenhausgesellschaft Holstein mbH zählen Häuser in Neustadt, Lübeck, Sierksdorf und Grömitz mit insgesamt gut 1000 Beschäftigten.

Hinter Ameos, so heißt es nebulös auf der Homepage des Unternehmens, stehen "langfristig orientierte institutionelle Geldgeber". Die Gruppe veröffentlicht keine Geschäftszahlen; es findet sich lediglich der Hinweis auf eine Bilanzsumme von rund 380 Millionen Euro.

Nach außen ist Ameos um ein positives Image bemüht. "Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung gegenüber Patienten und Mitarbeitern bewusst und orientieren uns konsequent an deren Bedürfnissen", heißt es auf der Homepage. Das "Aufbrechen von regulierten, traditionellen Krankenhausstrukturen und die Umwandlung in wettbewerbsfähige Gesundheitszentren" stehen im Mittelpunkt der Unternehmensstrategie. Zum Kostensenkungs-Paket zählt unter anderem die Gründung von Servicegesellschaften, die mittelfristig vermutlich an allen Ameos-Standorten einen Großteil des bisherigen Personals zu erheblich schlechteren Bedingungen übernehmen sollen.