ACORN-Stimmung. Aktive bei einer Aktion gegen Zwangsversteigerungen in Corona, Queens

Community Organizing ist eine in den USA seit Jahrzehnten erfolgreich praktizierte Form von Gemeinwesenarbeit, die Anwohner/innen miteinander vernetzt und mobilisiert, um Einfluss auf das Leben der Gemeinde zu nehmen. ACORN ist die größte Gemeinwesen-Organisation in den USA und gewinnt mit Präsident Obama als Unterstützer zunehmend an Einfluss

Myrna Millington steht im Vorgarten ihres Hauses im New Yorker Stadtteil Queens, in dem sie schon seit 38 Jahren wohnt, und sagt: "Ich verlasse mein Haus nicht. Ich bleibe hier." Die 73-jährige Witwe ist eines der vielen Opfer der Immobilienkrise, ihr Haus steht seit September 2008 unter Zwangsverwaltung. Nun droht ihr die Räumung. Millington ist umringt von einer Reihe von Anwohnern, die Schilder tragen. Auf denen steht "Genug ist genug" und "Rettet Menschen, nicht Banken". Dieser Protest und ähnliche Aktionen markierten im Februar überall in den USA den Beginn der landesweiten Kampagne "Zuhause bleiben" der Non-Profit-Organisation ACORN.

Sie haben einfach an die Tür geklopft

ACORN steht für "Association of Community Organizations for Reform Now" - "Vereinigung von Gemeindeorganisationen für sofortige Reformen". Die Vereinigung wurde 1970 von den Gewerkschaftern und Sozialarbeitern Wade Rathke und Gary Delgado gegründet. Es ist die größte basisorientierte Gemeinde-Organisation in den USA. Sie repräsentiert Familien mit geringem Einkommen und beschäftigt sich mit allen Belangen von Menschen in ihren Gemeinden. Mehr als 400000 Mitglieder in über 1200 Ortsverbänden in 110 Städten in den USA gehören dazu. ACORN organisiert auch Gemeinden in Kanada, Peru, Mexiko und Indien.

"Wir kümmern uns um so profane Dinge wie Stoppschilder oder Schlaglöcher, arbeiten aber auch an der Frage, wie und von wem unser Land regiert werden soll", fasst Direktorin Helene O'Brian zusammen. Die Präsidentin Maude Hurd erinnert sich an ihre erste Begegnung mit ACORN-Leuten 1982: "Eines Tages haben sie einfach an meine Tür geklopft und gefragt, was ich an meiner Gemeinde verändern möchte. Niemand hatte mir je so eine Frage gestellt."

Aktionen und Kampagnen

Zurzeit steht die Zuhause-bleiben-Kampagne im Vordergrund, mit der ACORN Räumungen verhindern will. Allein im Jahr 2008 haben mehr als 2,3 Millionen Familien in den USA ihre Häuser in der Krise verloren. Banken hatten privaten Kreditnehmern mit geringer Bonität Hypotheken zur Baufinanzierung gewährt, die die nicht zurückzahlen konnten. "Hinterhältige Kreditgeber haben uns Hausbesitzer ausgenutzt, um ihr Saldo aufzupolstern. Sie haben uns angelogen und Kredite aufgedrängt, die von vornherein unbezahlbar waren", sagt Myrna Millington. ACORN bietet Beratung zur Neuverhandlung von Krediten an und lädt zu Gemeindetreffen ein, bei denen Betroffene planen, wie sie Räumungen verhindern können. Eine Medienkampagne begleitet die Aktionen.

Zur Not schreckt ACORN auch vor zivilem Ungehorsam nicht zurück. Die "Heimverteidiger"-Teams sind bereit, sich an Häuser und Zäune zu ketten, um Räumungstrupps zu stoppen. Rückenwind erhält die Kampagne durch das von der Regierung verabschiedete 275-Milliarden-Dollar-Paket "Hausbesitz - Erschwinglichkeit und Stabilität", das Kreditgeber ermutigen soll, Hauskredite neu zu verhandeln.

ACORN arbeitet mit Bündnispartnern wie Kirchen, Gewerkschaften und anderen Organisationen auf vielen Ebenen zusammen. Mit Hilfe von Regionalpolitikern wird Druck auf Unternehmen ausgeübt. Medien, Online-Kampagnen, Demonstrationen und soziale Netzwerke im Internet machen die Öffentlichkeit auf die Arbeit aufmerksam. Der Aufbau der Organisation ist basisdemokratisch, die Mitglieder entscheiden über alle Belange, organisieren Treffen, stellen die Vertreter/innen und wählen den Vorstand.

ACORN beschäftigt mehr als 700 Angestellte. Für die Einstellung gilt eine Quote, die demographische und ethnische Struktur der Mitgliedschaft soll repräsentiert werden. Ähnlich wie bei anderen NGOs gelten die Arbeitsbedingungen als hart, die moralischen Anforderungen sind hoch. Organizer müssen bei jedem Wetter, oft spätabends, an unzählige Türen klopfen und teilweise über 55 Stunden pro Woche ableisten, zu einem geringen "Bewegungslohn". ACORN finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, private und staatliche Förderung und Spenden.

In der Vergangenheit setzte sich die Organisation für mehr bezahlbaren Wohnraum ein und forderte die Abschaffung von so genannten räuberischen Verleihpraktiken von Hypothekengebern. In Zusammenarbeit mit Banken vermittelt ACORN über ein eigenes Finanzierungsmodell selbst Hypotheken und hat damit mehr als 60000 Familien zum eigenen Haus verholfen. Dabei tritt die Organisation als Vertreter der potentiellen Käufer auf und bietet der Bank Sicherheiten.

Ein weiterer Arbeitsbereich ist das öffentliche Bildungssystem. In vielen Städten hat ACORN den Ausbau von Bibliotheken, Sportplätzen oder Parks erreicht. In Chicago konnten sie zwölf Millionen Dollar für Freizeitprogramme für Kinder durchsetzen und in New York sogar 400 Millionen Dollar sammeln, um in jeder Schule ein naturwissenschaftliches Labor einzurichten.

Ein Lohn zum Leben

Ein großer Teil des ACORN-Erfolgs ist der "Living Wage"-Kampagne geschuldet - für einen Lohn, der zum Leben reicht. ACORN setzt sich nicht nur kontinuierlich für die Anhebung des Mindestlohns ein, sondern auch für die Verabschiedung von Regelungen für einen ausreichenden Lohn. In mehr als 15 Städten, darunter Chicago, Denver und New York, konnte ACORN durchsetzen, dass private Unternehmen, die öffentliche Aufträge erhalten, einen "Living Wage" zahlen müssen, der über dem Mindestlohn liegt. "Für viele Familien im Niedriglohnsektor ist das wichtig. Sie können ihren Kindern vielleicht dieses Jahr das Paar Schuhe kaufen, das sie sich letztes Jahr noch nicht leisten konnten", sagt Maude Hurd.

In der letzten Zeit fiel ACORN mit immensem Engagement vor den Präsidentschaftswahlen auf, allerdings nicht nur positiv. Seit den 80er Jahren mobilisiert die Organisation potentielle Wähler/innen, sich registrieren zu lassen - und dann natürlich auch zu wählen. In den USA müssen sich Wähler registrieren, um wählen zu können, und Familien mit niedrigen Einkommen sind oft nicht registriert.

"Viele denken nicht, dass ihre Stimme etwas wert ist. Wir helfen ihnen, daran zu glauben, dass jede Stimme zählt - und ganz besonders ihre", sagt ein ACORN-Organizer. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr unterstützte ACORN Barack Obama und konnte mit Hilfe von 15000 haupt- und ehrenamtlichen Helfern 1,3 Millionen Erstwähler registrieren. Doch manche davon sind in Wirklichkeit gar nicht an die Urne gekommen. Ende des Jahres geriet ACORN in die Schlagzeilen, als öffentlich wurde, dass einige Wahlhelfer Registrierungen gefälscht oder Erstwählern Geld für die Registrierung angeboten haben sollen. Inzwischen hat ACORN diesen Helfern gekündigt. In einigen Fällen mussten Bußgelder gezahlt werden.

In der Organisation ist man zur Tagesordnung zurückgekehrt. Maude Hurd glaubt, die Tatsache, einen Präsidenten zu haben, der nicht nur an ihrer Seite steht, sondern einmal einer der ihren war, werde ihre Arbeit einfacher machen. Und vielleicht wird es bald überall auf der Welt ACORNs geben - das ist ihr Wunsch.

Gemeinwesenarbeit hat in den USA Tradition. Die Ursprünge werden in der Arbeit von Saul Alinsky in den 30er Jahren in den Ortsteilen von Chicago gesehen. Alinsky gründete 1940 eine der ersten Gemeinde-Organisationen in den USA, die Stiftung Industrial Areas Foundation (IAF), die bis heute noch Tausende von professionellen Organizern ausbildet. Alinsky glaubte an die Macht von zivilbürgerschaftlichem Engagement und kollektiver Selbstvertretung und prägte Generationen von Organizern mit seinem Motto: "Tu nie für andere, was diese für sich selbst tun können." Alinskys Konzept von Machtstrukturanalyse, bei der zentrale Schaltstellen von (lokaler) Macht und Einfluss in einem Netzwerk von Verbindungen und Knotenpunkten identifiziert werden, dient heute noch vielen Organisationen und auch Gewerkschaften als Grundlage für Kampagnenarbeit.

www.acorn.org