Ein Siebtel der Weltbevölkerung hungert, die Weltwirtschaftskrise trifft die Ärmsten der Armen. Zugleich sichern sich Industrie- und Schwellenländer große Ackerflächen in Entwicklungsländern

Reisernte im südostafrikanischen Malawi

VON MANFRED KRIENER

Die Länder des reichen Nordens werden ihr großes Ziel dramatisch verfehlen. Das auf dem letzten G 8-Gipfel im April noch einmal erneuerte Versprechen, bis 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren, war ein kraftloser Versuch, sich zumindest verbal in die Pflicht zu nehmen und zu alten Zielen aus wirtschaftlich besseren Zeiten zu bekennen. Doch die Zahl der Hungernden fällt nicht, sie steigt. Rund 40 Millionen sind seit September 2008 dazugekommen. Die seit Beginn der 90er Jahre laut der Welthungerhilfe erzielten „beachtlichen Fortschritte“ im Kampf gegen den Hunger sind dahin. Wenn Banken kollabieren, wenn Auto- und Chemiemärkte einbrechen, rückt das Elend in fernen Ländern noch ein Stück weiter weg. Zuletzt bewegte sich die Kennziffer der Hungernden wieder auf die magische Grenze von einer Milliarde zu. 963 Millionen Menschen befinden sich nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO in einem Zustand, den ihr Generalsekretär Hafez Ghanem so beschreibt: „Für diese Menschen bleibt ein tägliches ausreichendes Essen, um ein aktives und gesundes Leben führen zu können, ein entfernter Traum.“ 94 Prozent der Hungernden leben in den Entwicklungsländern, zwei Drittel in Asien.

Zumindest die Buchführung dieser neuen Epidemie ist mustergültig. So hat die Weltlandwirtschafts- und Lebensmittelorganisation FAO mitten in der Finanzkrise die Hungergebiete detailliert aufgeführt. Für 32 Länder reklamieren die Ernährungswächter einen Notstand: Afghanistan, Myanmar, Nordkorea und Sri Lanka heißen die am heftigsten betroffenen Länder in Asien; Äthiopien, Eritrea, Kenia, Kongo, Liberia, Simbabwe, Somalia, Sudan, Swaziland und Uganda werden in Afrika genannt. Aber auch Jemen, der Gaza-Streifen, Syrien, Haiti, Kuba und Tadschikistan stehen auf der Hungerliste.

„Wären die Hungernden eine Bank, wir hätten ihnen längst geholfen!“, hieß die zugespitzte Parole auf dem Globalisierungskongress „McPlanet.com“ in Berlin, wo Ende April mehr als 2000 Teilnehmer für die Weltinnenpolitik dieses Planeten einen „Neustart“ verlangten. Auf weltweit 20 bis maximal 30 Milliarden Dollar wird das jährlich notwendige Budget geschätzt, um den Hunger wirksam zu bekämpfen. Im Vergleich mit den riesigen schwarzen Löchern in vielen Bankbilanzen ist das eine erstaunlich niedrige Zahl. Doch inzwischen, so die Kritik von Rudolf Buntzel, Referent für Welternährungsfragen beim Evangelischen Entwicklungsdienst, wird die Hungerkrise von der Weltwirtschaftskrise verdeckt. Nach den 36 Hungeraufständen im vergangenen Jahr – allein in Kamerun starben dabei 170 Demonstranten – seien 13 Milliarden Dollar versprochen und eine Reihe ambitionierter Programme aufgelegt worden. „Wo sind sie geblieben?“, fragt Buntzel und gibt auch gleich die Antwort: „Tatsächlich ist wenig geschehen. Das ist enttäuschend.“

Dürren und andere Naturkatastrophen waren noch in den 90er Jahren der wichtigste Grund für immer neue Hungerepidemien. Inzwischen sieht die FAO, wie „von Menschen gemachte Krisen an die erste Stelle“ gerückt sind. Dazu zählen auch die noch immer hohen Preise für Grundnahrungsmittel, vor allem für Getreide. Die Preisexplosionen des Jahres 2008 sind noch in lebhafter Erinnerung. So war Frühlingsweizen im Februar 2008 auf den Rekordwert von 24 Dollar je Scheffel gestiegen, gegenüber sieben Dollar im September 2007. Auch Reis, Soja und Mais waren teuer wie nie. Inzwischen sind die auf den internationalen Getreidemärkten gehandelten Preise zwar deutlich zurückgegangen. Sie liegen im Vergleich zu den letzten Jahren aber immer noch deutlich über dem Durchschnittsniveau. So notierte Reis zuletzt 49 Prozent über dem zehnjährigen Durchschnittswert. Mais war 43 Prozent, Soja 36 Prozent, Weizen 31 Prozent teurer. Auf den Märkten der Entwicklungsländer registriert die FAO in acht von zehn Ländern derzeit höhere Preise als vor zwölf Monaten. Auch wenn die Getreideernte dieses Jahres vermutlich die zweitstärkste aller Zeiten sein wird: Die FAO befürchtet dennoch, dass die Wirtschaftskrise und die hohen Lebensmittelpreise die Zahl der Hungernden nach oben treibt.

Für die verstärkte Hungerkrise gibt es neben den oben genannten Ursachen eine Reihe weiterer Gründe:

  • Die eklatante Vernachlässigung der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern. Vor 25 Jahren gingen noch 17 Prozent der Entwicklungshilfe aus OECD-Staaten in die Landwirtschaft. Zuletzt waren es nur noch knapp vier Prozent.
  • Die Zerstörung heimischer Märkte in diesen Ländern durch subventionierte Exporte aus dem reichen Norden, auch aus der EU.
  • Die Weltbevölkerung wächst kontinuierlich, in den vergangenen zwölf Monaten um 82 Millionen Menschen – einmal Deutschland. 2012 wird die Sieben-Milliarden-Marke erreicht sein, 2050 könnten sich neun Milliarden den Planeten teilen.
  • Der hohe Fleischkonsum wird als Lebensstil auch in die Schwellenländer exportiert. Er sorgt zum Beispiel dafür, dass rund 90 Prozent der weltweiten Sojaernte an Nutztiere verfüttert wird.
  • Der Klimawandel verschärft Dürren und Naturkatastrophen.
  • Der Biosprit hat sich als zusätzlicher Konkurrent um Landflächen etabliert.
  • Die Spekulation auf den Getreidemärkten hat die Preise getrieben.
  • Kriege, Bürgerkriege, Korruption sind allgegenwärtig.

Inzwischen muss die Liste des Elends um einen weiteren Grund ergänzt werden: der Ausverkauf der Landflächen. Immer mehr Entwicklungsländer verkaufen oder verpachten große Territorien an Industrie- und Schwellenländer. Die FAO spricht von „Neokolonialismus“.

Seitdem in Madagaskar der geplante Landverkauf von 1,3 Millionen Hektar an den südkoreanischen Konzern Daewoo zu massiven Protesten und zum Sturz des Präsidenten Marc Ravalomanana führte, sind die Sensoren der Weltöffentlichkeit für solche Geschäfte empfindlicher geworden. In Madagaskar wollte Daewoo die Hälfte des fruchtbaren Landes der Insel für 99 Jahre pachten und dort im großen Stil Mais anbauen und nach Südkorea verschiffen. Auf einem Viertel der Flächen sollte zudem Palmöl für Biosprit gewonnen werden.

Mit dem Verkauf von Ackerland werden die Kleinbauern, die bisher auf diesen Flächen gewirtschaftet haben, nicht selten davongejagt. Sofia Monsalve von der Menschenrechtsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktionsnetzwerk): „Was wir häufig beobachten, ist, dass die Menschen, die darauf leben, zwangsvertrieben werden, ohne sie zu entschädigen oder woanders anzusiedeln.“ Oft werden die Flächen zum Billigtarif verschleudert. Die Entwicklungsländer brauchen das Geld, die Käufer sichern sich damit riesige Flächen, um ihre eigene „Nahrungsmittelsicherheit“ zu verbessern. Auf Käuferseite fallen China, Südkorea, Japan, Indien und Malaysia auf sowie die Ölexporteure Saudi-Arabien, Kuwait und die Arabischen Emirate.

Jüngstes Beispiel ist der Sudan. Das Land, von dem die UN sagt, es könnte die Kornkammer Afrikas sein und seine eigene Bevölkerung gut ernähren, hat zuletzt – während das halbe Land hungert – nicht nur große Mengen Nahrungsmittel exportiert, sondern, wie die Süddeutsche Zeitung meldet, „ganze Landstriche an die reichen Wüstenstaaten des Nahen Ostens verpachtet“. Allein die Emirate sollen sich 378000 Hektar Ackerland gesichert haben. Laos, das Armenhaus Südostasiens, soll bereits 15 Prozent seines Staatsgebiets an Firmen aus Thailand, Vietnam und Malaysia abgegeben haben. Werden wir Zeugen, wie die von ausländischen Tagelöhnern eingebrachten Ernten unter Militärschutz abtransportiert werden, während die Bevölkerung hungernd dabei zusieht?

Auch ohne die Landverkäufe wäre die Lage schon schlimm genug. Hoffnung bringen in der gegenwärtigen Krise zumindest zwei Entwicklungen. Die hohen Nahrungsmittelpreise sorgen für neue Investitionen in den Landwirtschaftssektor. Und im politischen Lager macht der inzwischen von rund 70 Ländern verabschiedete Weltagrarbericht Furore. Er fordert in ungewöhnlich klarer Sprache eine Wende in der globalen Landwirtschaft. Welthandel und Liberalisierung der Märkte sowie die ständig geforderten Produktionssteigerungen mit entsprechenden Dünger- und Pestizidorgien werden demnach den Hunger der Welt nicht stoppen. Stattdessen favorisiert der Expertenbericht eine bäuerliche Landwirtschaft, die auf lokale Agrarmethoden setzt und die Bauern nicht länger abhängig macht von Saatgutkonzernen, Düngemittel- und Chemiefirmen. Weitere Informationen:

www.fian.de

www.grain.org