Die Leiharbeit in Deutschland treibt bizarre Blüten - selbst Auszubildende werden jetzt schon als Leiharbeitnehmer/innen beschäftigt. Gewerkschafter und Betriebsräte fordern die Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Ein Report aus der Praxis

VON THILO SCHMIDT

Gerald Meyer* weiß, dass es ihn jederzeit treffen kann. Er ist Drucker bei der Braunschweiger Zeitung. Augenscheinlich. Denn auf dem Papier ist er Angestellter der "Druck- und Verlags- Service GmbH", kurz DVS. Die eigens für die Arbeitnehmerüberlassung im Verlagswesen gegründete Firma schafft regionale Tochtergesellschaften dort, wo Zeitungen oder Verlage Arbeitskräfte auslagern wollen. Gerald Meyer ist also Leiharbeitnehmer und einer von sechs Druckern, die bei der DVS in Braunschweig angestellt sind. Deren einziger Kunde: die Braunschweiger Zeitung.

In der Praxis sieht das dann so aus: Der Lohnunterschied zu den regulär angestellten Kolleg/innen macht je nach Zuschlägen monatlich 1000 bis 1500 Euro brutto. Dazu weniger Urlaub und weniger Zuschläge. Und die Freischicht ab dem 40. Lebensjahr entfällt. Selbst im Arbeitsalltag macht sich die Zweiklassengesellschaft bemerkbar: "Wenn es bei Auftragsspitzen darum geht, wer früher gehen darf und wer noch zwei Stunden länger bleibt", sagt Gerald Meyer, "dann ziehen wir Leiharbeiter den Kürzeren."

Mit Leiharbeit verband man lange Zeit die Metallindustrie, vor allem die Automobilindustrie mit ihren schwankenden Auftragslagen. Mit Leiharbeit sollten ursprünglich Auftragsspitzen aufgefangen und Mutterschaftsurlaube kompensiert werden. Das ist lange her, heute werden per Leiharbeit diverse Berufsstände verramscht – möglich gemacht, zum Ärger vieler Gewerkschafter, ausgerechnet durch die rot-grüne Bundesregierung, die 2004 die maximale Beschäftigungsdauer von zwei Jahren in der Leiharbeit abschaffte. Ein Unternehmen, empört sich Volker Stehr, Betriebsrat bei der Braunschweiger Zeitung, "nutzt doch nur die Möglichkeiten, die man ihm bietet. Was mir stinkt, ist, dass die Regierung Schröder den Unternehmen diese Tür geöffnet hat." Stehr fordert, die Lockerungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) rückgängig zu machen. Mit dieser Forderung ist er unter Gewerkschaftern nicht allein.

Im Verlagshaus der Braunschweiger Zeitung werden frei werdende Arbeitsplätze seit 2007 konsequent mit Leiharbeitnehmer/innen besetzt - ausgenommen bislang die Redakteur/innen. Mittlerweile gibt es, schätzt Betriebsrat Stehr, 30 bis 40 Leiharbeitnehmer/innen im gesamten Haus. Viele von ihnen waren zuvor bereits regulär – aber befristet – bei der Braunschweiger Zeitung beschäftigt. "Das, was Leiharbeit bedeuten soll, ist auf den Kopf gestellt worden", empört sich Stehr.

Betriebsräte sind selten

Und wenn die Braunschweiger Zeitung einmal keine Leiharbeitnehmer/innen mehr braucht? "Dann sind die weg", sagt Volker Stehr, "die gehen einfach. Ohne Sozialplan. Völlig geräuschlos." Und genau das könnte in Braunschweig bevorstehen, wenn im Druckzentrum wie geplant eine neue Druckmaschine angeschafft wird. 50 bis 60 der 170 dort Beschäftigten werden dann nicht mehr benötigt. Gerald Meyer dürfte dann einer der ersten sein, die gehen müssen.

Auch in Folge der Wirtschaftskrise sind die Leiharbeitnehmer/innen die ersten, die gehen: Deutschlandweit sind von 800 000 Leiharbeitnehmer/innen im Juli 2008 heute weniger als 500 000 übrig.

Welche Blüten das AÜG treibt, zeigt das Beispiel Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ). Ulrich Janßen, einst Redakteur, ist hier freigestellter Betriebsrat und seit März 2009 auch Vorsitzender der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di. Von seinen 370 Kolleg/innen im Hause sind etwa 60 als Leiharbeitnehmer/innen angestellt. Nur dass in Oldenburg selbst Redakteur/innen betroffen sind. Das sind, sagt Janßen, "ganz normale Redakteure! Die werden, von der Bezahlung abgesehen, auch genauso behandelt".

Es ist auch möglich, innerhalb des Hauses um eine Hierarchiestufe abzurutschen, denn auch Kolleg/innen, die bereits befristet bei der NWZ beschäftigt sind, erhalten nach Auslaufen ihres Vertrages lediglich das Angebot, zu den "Nordwest-Personaldienstleistungen" (NWP) zu wechseln. Die NWP sind – wie die NWZ – eine Tochter der Nordwest-Medien und eigens zum Zwecke gegründet worden, die Nordwest-Zeitung mit billigem Personal zu versorgen.

Ein Leih-Redakteur bei der Nordwest-Zeitung verdient im Monat – je nach Beschäftigungsdauer – im besten Falle 440, im schlechtesten fast 2 000 Euro brutto weniger als sein festangestellter Kollege - für die gleiche Arbeit, Schreibtisch an Schreibtisch. Genau sagen kann Janßen das aber nicht, denn der Betriebsrat ist bei der Einstellung von Leiharbeitnehmer/innen nicht anhörungspflichtig, da diese von der Tochtergesellschaft NWP angeheuert werden.

Selbst Volontär/innen, die bei der NWZ ihre journalistische Ausbildung absolvieren, werden als Leiharbeitnehmer/innen eingestellt. Ein zusätzlicher Missbrauch der Konstruktion Leiharbeit, denn das AÜG sieht vor, dass von Leiharbeitnehmer/innen Arbeitsleistungen erbracht werden, sagt Janßen: „Du gehst ins Berufsleben, und – peng – dir begegnen Unfairness und Ungerechtigkeit.“

Gerichtliches Vorgehen

Inzwischen haben sich die Betriebsräte Stehr und Janßen darauf verlegt, im Kampf für "Equal Pay", also gleiche Bezahlung, auch gerichtlich gegen die Leiharbeit in ihren Häusern vorzugehen.

Leiharbeit ist eigentlich nichts Schlechtes, sagt Beate Voigt aus Berlin. Voigt ist Betriebsratsvorsitzende bei Randstad Ost und Mitglied des Gesamtbetriebsrats von Randstad, dem Branchenführer der Leiharbeitsfirmen. "Vom Urschleim her", argumentiert Voigt, habe die Zeitarbeit ja ihren sehr sinnvollen Zweck gehabt. "Sie ist aber längst ein probates Mittel zur Flexibilisierung und Deregulierung geworden - und damit zum Sozialabbau."

Beate Voigt und der Betriebsrat fordern daher, dass ein Arbeitsplatz nach zweijähriger Besetzung durch eine Leiharbeitnehmerin oder einen Leiharbeitnehmer in eine feste Stelle umgewandelt werden muss. Und zwar nicht bezogen auf die Person, sondern bezogen auf den Arbeitsplatz - "damit kein Drehtüreffekt entsteht". So soll die Zeitarbeit wieder zu dem werden, wozu sie erfunden wurde. Man freue sich als Betriebsrat über jeden, der vom Entleiher in eine Festanstellung übernommen werde. "Es bleibt immer noch genügend Zeitarbeit übrig, um ein Geschäft zu machen in dieser Branche."

Randstad, lobt sie ihr Unternehmen, sei das einzige Zeitarbeitsunternehmen mit flächendeckenden Betriebsratsstrukturen. Beate Voigt war selbst Zeitarbeitnehmerin, bevor sie als Betriebsrätin freigestellt wurde. Nichts Selbstverständliches. Vereinzelt hätten Leiharbeitnehmer/innen es vermocht, Betriebsräte zu gründen. Oftmals aber nur, wenn sich in einem entleihenden Unternehmen viele Arbeitskräfte desselben Dienstleisters gefunden haben. Aber in der Regel, sagt Voigt, "sind Leiharbeiter schneller entlassen, als sie diesen Gedanken zu Ende denken können".

Man braucht nicht viel Phantasie, um unter den teilweise sehr kleinen oder regional tätigen Leiharbeitsunternehmen viele schwarze Schafe zu vermuten: "Einen Taxischein zu machen ist schwieriger, als eine Leiharbeitsfirma zu gründen", sagt Beate Voigt. Einen Laden mieten, ein Schild an die Tür, fertig. Und Gehälter auszahlen, die deutlich unter den mit Beteiligung des DGB entstandenen Flächentarifen liegen. Man beruft sich einfach auf den Tarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der christlichen Tarifgemeinschaft CGZP. Los geht es dort bei sechs Euro pro Stunde, bei von der CGZP abgeschlossenen Haustarifverträgen kann auch einmal eine vier vor dem Komma stehen. Allerdings hat das Arbeitsgericht in Berlin im April erstinstanzlich beschlossen, die CGZP sei gar nicht tariffähig. 200 000 betroffene Leiharbeitnehmer/innen können nun hoffen, rückwirkend die gleiche Entlohnung wie die Stammbeschäftigten zu erhalten. Und die betroffenen Leiharbeitsunternehmen müssten neben der Lohndifferenz auch noch die fehlenden Sozialversicherungsbeträge rückwirkend begleichen. Eine Pleitewelle ist nicht ausgeschlossen. Für Randstad-Betriebsrätin Beate Voigt wäre es eine "Befriedigung, wenn die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden".

Es geht auch anders

Dass Leiharbeit kein gottgegebener Zustand ist, erlebten die Mitarbeiter/innen des St.-Josefs-Stifts im unterfränkischen Eisingen. Die Einrichtung der Caritas, in der knapp 400 geistig behinderte Menschen betreut werden, geriet 2007 angeblich in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Über 80 Leiharbeitnehmer/innen gab es zeitweilig im St.-Josefs-Stift. Die eigens dafür gegründete Tochtergesellschaft berief sich auf den Dumping-Tarifvertrag des CGZV. Die Beschwerden der Mitarbeitervertretung gingen bis zur Bischofskonferenz. Als schließlich das kirchliche Arbeitsgericht noch einen Umgehungstatbestand witterte, wurde es der Geschäftsführung wohl zu heiß. Im Januar 2009 wurde das Kapitel Leiharbeit in Eisingen wieder beendet, die Mitarbeiter/innen wurden in ihren alten Stand versetzt und für die durch das Leiharbeits-Intermezzo entstandenen Nachteile sogar entschädigt.

Anfang des Jahres hat man die Leiharbeit auch bei der Augsburger Allgemeinen wieder abgeschafft - wohl aus Angst um den guten Ruf des alteingesessenen Unternehmens. Bis zu 160 Beschäftigungsverhältnisse in Redaktion, Verlag und Weiterverarbeitung waren in Leiharbeitsstellen umgewandelt worden. Doch der Erfolg ist aus Sicht des Betriebsrates nur ein halber: Während die Redakteur/innen ins Stammhaus zurückkehrten und auch ihren alten Tarif zurückerhielten, wurden die Beschäftigten der Weiterverarbeitung aus dem Unternehmen ausgegliedert - und unter Tarif beschäftigt.

*Name geändert