VERDI-FACHTAGUNG I Prof. Michael Vester zur Zukunft öffentlicher Dienstleistungen

Prof. Michael Vester ist Politikwissenschaftler in Hannover

HANNOVER | Deutschland als ewiger Exportweltmeister - ist dieser Mythos eine Falle? Bei der ver.di-Fachtagung "Öffentlich ist wesentlich – zur Zukunft öffentlicher Dienstleistungen" sprach sich Michael Vester für ein Umdenken aus.

ver.di PUBLIK | Was ist schlecht an einem Exportweltmeister?

MICHAEL VESTER | Wenn in der Krise viele Auslandsmärkte weg brechen, ist Deutschland besonders hart betroffen. Kurzarbeit und Jobverluste sind die Folge. Daher fordern viele in der jetzigen Krise eine Politik, die auf Hochtechnologien, vor allem auf ökologische neue Produkte setzt. Das wäre mit einer Sicherung der Industriebeschäftigung und mit dem Ausbau höherer Bildungs- und Ausbildungswege verbunden.

ver.di PUBLIK | Also ein Plädoyer für ökologische Hochtechnologie und Hochqualifikation?

VESTER | Hochqualifikation wird durch den internationalen Wettbewerb erzwungen. Aber sie kann zur Falle werden. Denn durch die stetige Zunahme des Qualifikationsniveaus können immer weniger Fachkräfte, die immer besser spezialisiert sind, immer mehr industrielle Produkte herstellen. Diese Kompetenzrevolution hat von 1990 bis 2007 im industriell-technischen Sektor ein erhebliches Schrumpfen der industriell Beschäftigten von 42,6 auf 32,3 Prozent aller Erwerbstätigen nach sich gezogen. Insbesondere ist die Gruppe der industriellen Facharbeiter und Handwerker von 20,8 auf 13,2 Prozent aller Erwerbstätigen geschrumpft.

ver.di PUBLIK | Welche Beschäftigungsalternativen gibt es?

VESTER | Den freigesetzten Arbeitnehmer/innen wird heute der Status einer Reservearmee von prekär Beschäftigten angeboten. Sie werden nach ihrer Entlassung in der Krise zumeist nur auf einen neuen Exportboom nach der Krise verwiesen. Der Glaube an diesen Mythos der ewigen Exportweltmeisterschaft kann aber keine Dauerlösung sein. Wir brauchen mehr Humandienstleistungen. Ein gutes Beispiel ist Schweden. Die in der Industrie nicht gebrauchten Arbeitskräfte finden dort im Bereich Gesundheit, Bildung und Soziales eine alternative Beschäftigung.

ver.di PUBLIK | Doch gerade in diesem öffentlichen Sektor regiert doch der Rotstift.

VESTER | Leider. Die Verringerung der Humandienstleistungen hat bereits Ende der 70er mit der Drosselung der Staatsausgaben begonnen, die Kostensenkungen sollten die industrielle Exportkraft erhöhen. Der Preis dafür war hoch: Beschäftigtenzahl, Gehälter und Arbeitsqualität im öffentlichen Dienst wurden gesenkt. Eigenverantwortung, Autonomie und selbstgesteuerte horizontale Zusammenarbeit am Arbeitsplatz blieben auf der Strecke. Überlastete Beschäftigte werden zu mehr Leistung angetrieben. Fachfremde neue Kontrollbürokratien urteilen rein betriebswirtschaftlich. Das Motto heißt immer noch: Billiger statt besser.