Ausgabe 11/2009
Tod am Arbeitsplatz
von Dorothea Hahn (Text) und Laurent Hazgui (Fotos)
Protest und Trauer: France Télécom-Beschäftigte im Oktober in Paris
"Wieso hast Du nicht mehr als ein Handy-Abonnement verkauft?" herrscht der Manager eines Pariser T-Punkts von "France Télécom" eine Verkäuferin an. Sie hat getan, was der Kunde wollte. Aber ihr Unternehmen erwartet mehr. Sie soll die Kunden "für den Winter warm anziehen". Soll ihnen Dinge aufdrängen, die sie nicht verlangen. Ein Handy? Dazu gehört unbedingt ein Paket SMS! Ein Internet-Vertrag? Nie ohne eine Fernsehoption! Zugleich soll sie die "Client-Attitude" wahren: immer freundlich bleiben. Und nie die Abschlussfrage vergessen: "Sind Sie zufrieden mit France Télécom?"
Der Stress für die 102 000 Beschäftigten im sechstgrößten Unternehmen von Frankreich ist Alltag. Sie müssen persönliche Leistungen bringen, werden kontrolliert und abgehört. Und von ihren Vorgesetzten zusammengestaucht, wie unartige Kinder. Wer es schafft, den Umsatz in die Höhe zu treiben, bekommt Prämien. Und Beförderungen. Die anderen riskieren Einträge in ihre Personalakten sowie die Drohung: "Falls das weitergeht, wirst Du versetzt - um Dich wieder zu motivieren."
Die Selbstmörder
Nicht alle halten dem Stress stand. 25 Beschäftigte von France Télécom haben sich in den vergangenen 20 Monaten das Leben genommen. Selbstmordversuche und Depressionen kommen hinzu. Manche Abschiedsbriefe lesen sich wie postum Anklagen gegen das Unternehmen.
"Der einzige Grund ist die Arbeit", begründet ein 51-jähriger Techniker von France Télécom Marseille im Juli in seinem Abschiedsbrief seinen Suizid, "der permanente Druck, die Überlastung, die fehlende Weiterbildung, die Desorganisation und das Management mit dem Terror." Wenig später springt in Paris eine 32-jährige vor den Augen ihrer Kolleginnen und Kollegen aus dem Bürofenster in den Tod. Zuvor hat sie von einer Reorganisation ihrer Dienststelle erfahren. Anfang September rammt sich in Troyes während einer dienstlichen Sitzung ein Techniker ein Messer in den Bauch. Er überlebt und erklärt im Krankenhaus, dass er seine zwangsweise Versetzung nicht ertragen hat. Ende September wirft sich ein 51-jähriger Callcenter-Mitarbeiter auf die Autobahn A41 bei Annecy. "Leiden am Arbeitsplatz", steht in seinem Abschiedsbrief. Mitte Oktober nimmt sich ein 48-jähriger Ingenieur in Lannon das Leben, aus Enttäuschung über eine verpasste Beförderung.
Die Zahlen sind hoch. Doch sie liegen im nationalen französischen Mittel. Mit durchschnittlich 16 Selbstmorden pro 100000 Einwohnern und Jahr steht Frankreich an zweitoberster Stelle in der europäischen Statistik. Gleich nach Finnland. Ungewöhnlich sind hingegen das Alter und die Tätigkeit der Opfer bei France Télécom: Üblicherweise sind Selbstmörder in Frankreich unter 20 oder über 60 Jahren, oder arbeitslos.
Die Gewerkschafter
Jean-Marc Lassoutanie kennt die Situation. In seinen 12 Jahren im Unternehmen hat sich der Sektor der Telekommunikation radikal gewandelt. Als er als Verkäufer bei France Télécom anheuerte, war das Unternehmen gerade erst an die Börse gegangen und hatte noch wenig Konkurrenz. Lassoutanie war einer der ersten Nicht-Beamten in der Belegschaft. Anfangs arbeitete er im Shop am Jardin du Luxembourg mit sechs oder sieben Kollegen zusammen, die sich hauptsächlich um Festnetztelefone kümmerten. Seither sind ein zusätzlicher Name für das Unternehmen - "Orange" - und neue Aktivitäten hinzu gekommmen: vom Mobiltelefon bis zum Fernsehen. Aber der Shop ist nur noch mit maximal zwei Leuten besetzt. Aus den "Nutzern" des öffentlichen Dienstes von einst sind derweil "Kunden" geworden. Wenn die mit Fragen oder Beschwerden in den Shop kommen, werden sie höflich an die Telefonauskunft 39 00 verwiesen. Dort müssen sie ihre Gesprächszeit selber bezahlen. Wer Reklamationen hat, heißt im rauen, neuen Jargon von France Télécom: "client polluant" - verschmutzender Kunde.
Die Gewerkschafter Thierry Maurange und Jean-Marc Lassoutanie
"Wir waren Berater. Heute verkaufen wir um jeden Preis", sagt Lassoutanie. Sein Kollege Thierry Maurange fügt hinzu: "Früher waren wir Personen. Jetzt sind wir Roboter." Dem Unternehmen selbst geht es dabei gut. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete France Télécom 4,1 Milliarden Euro Gewinn.
Lassoutanie, 41, und Maurange, 38, sind gewählte Personalvertreter für mehrere France Télécom-Boutiquen, wie sie im Französischen genannt werden, in Paris. Anders als ihre Kollegen, die sich allenfalls trauen, anonym über ihre Arbeitsbedingungen zu berichten, genießen die beiden Gewerkschafter Kündigungsschutz. Sie gehören zu einer neuen Generation von Gewerkschaftern. Ihre Vorgänger bei France Télécom organisierten regionale - manchmal sogar nationale - Proteste, wenn es Probleme in nur einer Niederlassung von France Télécom gab. Heute ist jeder Beschäftigte der Konkurrent seines Kollegen. Das Kollektiv ist verschwunden. Statt mit Klassenkämpfen befassen sich die beiden CGT-Gewerkschafter oft mit individuellen medizinischen und psychologischen Notlagen. Nicht selten schalten sie "die Hierarchie" ein, wenn ein Kollege in einem der Hinterzimmer einer Boutique in Tränen ausbricht. Oder von einem schmerzenden Knoten im Hals spricht, der dicker wird, wenn die Arbeit beginnt. "Es gibt keine Solidarität mehr", sagt Lassoutanie, "die Leute haben Angst."
Lange bevor die jetzige Selbstmordwelle bei France Télécom in die Schlagzeilen kam, hat Gewerkschafter Maurange die Malaise im Betrieb gespürt. Manchmal stieg sie wellenartig an. So als France Télécom den Kundendienst abschaffte und die Arbeit an die Verkäufer delegierte. Sie sollten - ohne personelle Aufstockung - nebenbei auch den Kundendienst erledigen. Ein Ding der Unmöglichkeit.
"Die Leute erhalten unerreichbare Zielvorgaben", klagt Maurange. Als ein Motiv für die Zielvorgaben nennt der Gewerkschafter: "Die Leute werden psychisch fertig gemacht, damit sie das Unternehmen verlassen. Im schlimmsten Fall begehen sie Selbstmord." Lassoutanie und Maurange sprechen von "Kollateralschäden". Als gäbe es einen Krieg im Unternehmen, bei dem manche Bomben ihr Ziel verfehlen. Die Methode nennen sie: "Management mit dem Stress." Oder: "Management mit dem Terror."
Der Unternehmer
Die Spitzenmanager von France Télécom betrachten die Depressionen und Selbstmorde lange als privates Problem ihrer Beschäftigten. Noch im September spricht Unternehmens-Chef Didier Lombard bei einer Pressekonferenz in Paris leichtfertig von einer "Selbstmord-Mode". Einen Selbstmord später empfangen Kollegen des Toten ihren zu Beileidsbekundungen herbeigeeilten Unternehmenschef mit Pfiffen und dem Ruf: "Mörder." Dann kommt die Mahnung einer Arbeitsinspektorin in Paris hinzu. Sylvie Catala droht der Unternehmensleitung eine Klage an, falls sie nicht umgehend "Maßnahmen gegen das Selbstmordrisiko im Unternehmen" ergreife. Fast gleichzeitig schaltet sich Wirtschaftsministerin Christine Lagarde ein. Sie bestellt den Unternehmenschef zum Rapport ins Ministerium. Der französische Staat ist mit 26,7 Prozent immer noch Hauptaktionär.
Im Oktober erfolgt ein spätes Mea Culpa des 67-jährigen France Télécom-Chefs Lombard. "Ich habe das Leiden nicht ernst genug genommen", sagt er. Vor dem Hintergrund von weltweiten Negativschlagzeilen über das mörderische Klima bei France Télécom / Orange redet er von "Entfaltung im Beruf". Er verkündet feierlich: "Ich will nicht mehr akzeptieren, dass gewisse Beschäftigte gestresst zur Arbeit kommen."
Lombard willigt in "Stressverhandlungen" ein. Die Gewerkschaften haben das schon seit Jahren verlangt. Die EU hat sie unterstützt, indem sie eine Europäische Richtlinie über Stressverhandlungen verfasste. Aber France Télécom hat bis zu der Selbstmordwelle gewartet. Ende Oktober erhalten die Beschäftigten einen Multiple-Choice-Bogen mit 170 Punkten. Darunter: "Ich werde an meinem Arbeitsplatz ungerecht behandelt." Und: "Bei der Arbeit werde ich ausgebeutet." Und: "In den sieben letzten Tagen stand ich kurz vor den Tränen." Der Rücklauf ist umwerfend. Schon am ersten Tag beantworten 25 000 Personen den Fragebogen.
Als weitere Kurskorrekturen setzt France-Télécom-Chef Lombard vorerst die Zwangs-versetzungen und die Schließungen und Zusammenlegungen von Betriebsstätten aus. Seinen eigenen Rücktritt lehnt er ab. An seiner Statt opfert er den zweitwichtigsten Mann von France Télécom: den Spitzenmanager Pierre-Louis Wenes. Der geschasste Wenes war 2002 als "Kosten-Killer" engagiert worden. Seinen Auftrag - 3,5 Milliarden Euro einzusparen und die Belegschaft zu reduzieren - hat er erfüllt. Sein Management-Programm "Next" hat unter anderem 22 000 Arbeitsplätze in drei Jahren gekostet.
Gleichzeitig mit France Télécom beginnen auch andere große Unternehmen "Stressverhandlungen". In einigen von ihnen - darunter Renault, Peugeot, Novartis, LVMH und BNP - gibt es ebenfalls Selbstmordwellen. Manche sind noch mörderischer als bei France Télécom.
Der Arbeitsmediziner
"Dasselbe Management führt zu denselben Resultaten", erklärt Dr. Bernard Salengro. Der 62-jährige Arbeitsmediziner hat 2002 zusammen mit zwei Gewerkschaften - CFC und SUD - ein "Stress-Observatorium" für France Télécom eröffnet. Schon 2007 hat er bei einer Befragung ein hohes Leiden festgestellt. Damals verhinderte die Direktion den Zugriff von den Firmencomputern auf die Ergebnisse der Untersuchung.
Der Arbeitsmediziner Dr. Bernard Salengro
"Verantwortlich ist das Management", erklärt der Arzt. "Um die Lohnkosten zu reduzieren und weitere Beschäftigte aus dem Unternehmen zu drängen, wird bei France Télécom gemobbt und werden funktionierende Beziehungen zerstört." Wie man Beschäftigte isoliert und destabilisiert, lernen angehende Manager an Handelsschulen. Die möglichen psychosozialen Folgen ihres Handelns werden dabei kaum berücksichtigt. Salengro, der über die modernen Methoden 2003 das Buch Management par la manipulation mentale (Management mit mentaler Manipulation) veröffentlicht hat, sagt: "Die Beschäftigten arbeiten schneller, und ihre Leistung ist höher, wenn sie Angst haben."
Ähnlich wie im späten 19. Jahrhundert, als die industrielle Revolution eine Selbstmordwelle unter Handwerkern ausgelöst hat, steht auch dieses Mal eine technologische Revolution am Anfang der Krise: die "Windowisierung" der Köpfe in den 90er Jahren. Die neuen Technologien beschleunigen den Arbeitsrhythmus und reduzieren die Autonomie der Beschäftigten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Manager ihr Hauptaugenmerk von der Produktion in die finanzielle Sphäre verlagern. "Wo die Produktion nicht ausreicht, um die gewünschten Renditen zu erzielen, werden Beschäftigte entlassen oder Immobilien verkauft", sagt Salengro. Die Selbstmörder spüren diese Bedrohungen. Der Arzt diagnostiziert, dass es sich dabei meist um besonders gut ausgebildete und besonders hoch motivierte Beschäftigte handelt: "Sie reagieren sensibel auf ihre Entmündigung."
Das Frankreich-Klischee - mit 35-Stunden-Woche, langen Urlauben und vielen Streiks - nennt Salengro "grundfalsch". Er beschreibt ein Land, das die "höchste Produktivität pro Stunde aller Industrieländer hat - Deutschland und Japan inklusive". Und eine soziale Gewalt in den französischen Unternehmen, die europaweit einmalig sei. Erschwerend kommen die Schwäche der Gewerkschaften sowie die Abwesenheit von Verhandlungsbereitschaft auf Seiten der Unternehmer hinzu. Während die Streiks und sonstige kollektive Aktionen dauerhaft zurückgehen, nehmen Mobbing und Selbstmorde zu", erklärt er. Und: "Das ist umgekehrt proportional."
Als einzige Möglichkeit, das Selbstmordrisiko in den Unternehmen zu senken, nennt der Arzt eine finanzielle Maßnahme: "Es muss richtig teuer für die Unternehmen werden, Stress als Berufskrankheit anerkannt werden. Wie in Schweden."
Die Personalvertreterin
Sylvaine Cussoneau ist 1995 Beamtin bei France Télécom geworden. Sie gehört zum vorletzten Jahrgang, der von diesem Status profitiert. Die 39-jährige Personalvertreterin von der Gewerkschaft SUD weiß seit langem von Schlafstörungen bei Kollegen, von Platzangst auf dem Weg zur Arbeit, von monatelangen Depressionen und davon, dass viele keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit sehen. Aber erst, als die Selbstmordwelle in die Medien kommt, erfährt Sylvaine Cussoneau, wie tief der Abgrund in ihrer Pariser Dienststelle ist: "Mindestens 40 Prozent" der neun Frauen und drei Männer, mit denen sie zusammen arbeitet, nehmen Psychopharmaka.
Sylvaine Cussoneau
Was jetzt bei France Télécom / Orange passiert - die Stressverhandlungen, die Befragung und das Memorandum für erzwungene Mobilität und Umstrukturierungen - ist eine Verschnaufpause. Es ist eine Gelegenheit zum Durchatmen in einem Unternehmen, das binnen eineinhalb Jahrzehnten ein Drittel seiner Stellen gestrichen und seine Aktivität vielfach erweitert hat. Aber die Pause endet am 31. Dezember. Eine neue, langfristige Perspektive ist nicht in Sicht. Nach Ansicht der Gewerkschaft CGT wären dazu einerseits ein neues industrielles Projekt und andererseits ein neues Management nötig. Doch die Unternehmensleitung hält an ihren alten Projekten fest. Finanzdirektor Gervais Pellissier will seine finanziellen Ziele für 2010 nicht ändern. Das ist kein gutes Omen für die Beschäftigten. Denn die Ziele sind nur zu erreichen, wenn France Télécom die Belegschaft weiter ausdünnt. Sylvaine Cussonneau sagt: "Die Direktion ist Gefangene ihrer Rentabilitätslogik. Darin ist die Lohnmenge ein Problem."