Ausgabe 12/2009
Vor dem Werkstor
Gewerkschaftsarbeit in der Türkei ist hart. Arbeitnehmerfeindliche Gesetze sorgen dafür, dass kaum eine Belegschaft zu organisieren ist, und Arbeitgeber schmeißen ihre Beschäftigten raus, wenn sie einen Betriebsrat gründen wollen. Zu Besuch bei jenen, die sich dennoch nicht unterkriegen lassen
Aus Istanbul Jürgen Gottschlich (Text) und Murat Tueremis (Fotos)
Emine Arslan demonstrierte ganz allein für Gewerkschaftsrechte bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem Leder-Konzern Desa in Sefakoey, Istanbul
Im ersten Augenblick gibt es eine kleine Irritation. Erscheint hinter der unscheinbaren Frau, die gerade die Tür geöffnet hat, eine weitere, die eigentliche Hauptperson? Doch es kommt niemand mehr. Als der Gast wie zur Sicherheit fragt, "Emine?", lächelt sie fast entschuldigend. Ja, die kleine Frau mit dem traditionellen Kopftuch und dem schüchternen Blick ist tatsächlich Emine Arslan. In der türkischen Gewerkschaftsbewegung ist sie längst eine Legende. Emine Arslan ist die Frau, die im Alleingang eine große Fabrik bestreikt hat, in der hochwertige Lederartikel hergestellt werden. Die Frau, die den Boss des Konzerns, Melik Celet, einen autoritären Patriarchen alter Schule, zur Verzweiflung gebracht hat und die damit zum Vorbild und zur Hoffnungsträgerin tausender Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Türkei geworden ist.
Emine ist zusammen mit ihrem Mann und den beiden jüngsten von vier Kindern in einer kleinen Souterrain-Wohnung zu Hause. Sie wohnt in einer dieser typischen Istanbuler Billigappartements, die zu hunderttausenden an der Peripherie der Stadt entstanden sind und heute die ehemaligen Gecekondus, die über Nacht erbauten Hütten der Einwanderer vom Land, ersetzen. Sie wohnt nur einen Steinwurf weit entfernt von der Fabrik, in der sie acht Jahre gearbeitet hat und dann von einem Tag auf den anderen gefeuert wurde, weil sie versucht hatte, eine Gewerkschaftsgruppe zu gründen.
Kein Einzelfall in der Türkei. "Entweder Rausschmiss, oder die Arbeiter werden gedrängt, die Gewerkschaft zu wechseln. Meistens zwingt man sie, in die regierungsnahe HAK Is einzutreten", erklärt Tayfun Güngör, der Generalsekretär des linken Gewerkschaftsdachverbandes DISK, das gesetzlich legale Vorgehen der Arbeitgeber, unbequeme Arbeitnehmervertreter loszuwerden. Um Gewerkschaftsmitglied zu werden, genügt es auch nicht, ein Formular zu unterschreiben, sondern man muss zu einem Notar gehen und dort seinen Eintritt erklären. Das kostet Geld und muss in der Arbeitszeit geschehen, was für viele Arbeiterinnen und Arbeiter ein großes Problem ist. Außerdem kommt es häufig vor, dass der Notar den Unternehmer informiert - was fast immer dazu führt, dass der oder die Betreffende auf einer Schwarzen Liste landet.
Tayfun Güngör, Generalsekretär des linken Gewerkschaftsdachverbandes DISK
Das alles sollte längst besser werden, denn die türkische Regierung hat sich gegenüber der EU verpflichtet, die Gewerkschaftsgesetze zu reformieren. "Bislang haben sie aber noch nicht mal einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Regierung will den Status Quo", ist sich Güngör sicher. "Wir schicken jedes Jahr einen Bericht an die EU-Kommission. Seit die Beitrittsverhandlungen 2005 begonnen haben, brauchen wir immer nur ein neues Datum einzusetzen. Die Situation ist unverändert." Hinzu kommt: Es ist fast aussichtslos, in einem türkischen Unternehmen als Gewerkschaft tariffähig zu werden - zu hoch ist die Organisationsquote, die erreicht werden muss.
Zurück zu Emine Arslan. Seit Jahren versucht die Gewerkschaft für Lederarbeiter, Deri Is, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den drei Fabriken von Desa zu organisieren. Emine Arslan gehörte zu denjenigen in der Fabrik im Vorort Sefaköy, die schon länger fanden, dass die Arbeitsbedingungen in ihrer Fabrik unzumutbar sind, und deshalb mit Hilfe der Gewerkschaft verändert werden müssten. Sie organisierte Treffen mit Kollegen, um eine Gewerkschaftsgruppe zu gründen. Doch es kam nicht dazu. Emine Arslan wurde gefeuert, weil ein Kollege sie an die Vorgesetzten verpetzt hatte. Mit einer fadenscheinigen Begründung wurde sie umgehend entlassen.
Doch Emine reagierte nicht so, wie die Bosse es erwartet hatten. Sie duckte sich nicht, sondern sie klagte an. Jeden Morgen zu Arbeitsbeginn erschien sie vor dem Werkstor, spannte ein Transparent der Gewerkschaft Deri Is auf und veranstaltete so eine Ein-Frau-Demonstration. "Am Anfang", erzählt Emine, "haben die Bosse gelacht und meine Kolleginnen mich mitleidig angeschaut." Doch Emine ließ sich nicht entmutigen. Sie kam wieder. Jeden Tag. Unterstützt von ihrem Mann, der ihre Aktion bis heute gut und richtig findet, und von Deri Is, harrte Emine vor dem Werkstor aus, präsentierte ihr Gewerkschaftstransparent und erinnerte ihre Kolleginnen daran, dass sie sich organisieren wollten.
Nuran Gülenc von der Gewerkschaft der Lederarbeiter, Deri Is, kämpft im Konzern Desa um Zugeständnisse
Als dann die ersten Zeitungen kamen und über die mutige "Ein-Frau-Demo" schrieben, verging den Desa-Leuten langsam das Lachen. Emine wurde erst bekannt, später sogar berühmt. Gewerkschafterin Nuran Gülenc, die bei Deri Is die Desa-Kampagne betreut, und Bilge Seckin, die zwischen Universität und Gewerkschaft pendelt und für Deri Is die internationalen Kontakte herstellt, machten die "Clean Clothes Campain" (CCC, Kampagne für saubere Kleidung), die Internationale Textil- und Lederarbeiter Föderation und andere Organisationen auf Emine und den Fall Desa aufmerksam. Denn Desa ist nicht irgendeine Fabrik. Ihre Handtaschen und Schuhe decken das oberste Preissegment in der Türkei ab. Die First Lady des Landes, Heyrunisa Gül, geht bei Desa einkaufen. Vor allem aber liefert Desa an so illustre Konzerne wie Prada oder die britische Kette Marks & Spencer.
Die Clean Clothes Campaign lud Emine Arslan nach Italien, Spanien und Frankreich ein, um dort Prada und vor allem deren Kundinnen darauf aufmerksam zu machen, unter welchen Arbeitsbedingungen ihre Luxustaschen produziert werden. So kam es, dass Emine plötzlich zusammen mit vielen Unterstützern vor der Prada-Zentrale in Mailand demonstrierte und sich in Florenz unter die Prada-Kundinnen mischte. "Ich bin dort in den Laden gegangen und hab mir eine Tasche angeschaut, die wir in Istanbul genäht haben. Die Tasche kostete 2 400 Euro. Das ist fast so viel, wie ich in einem ganzen Jahr verdient habe." Emine schüttelt immer noch den Kopf, wenn sie an diese Luxuswelt denkt. Doch ihre Medienpräsenz in der Türkei und vor allem die internationale Unterstützung zeigten Wirkung.
Der Desa-Patriarch Melik Celet war plötzlich doch bereit, mit der Gewerkschaft zu reden. Im September kam es zu einem denkwürdigen Treffen in der Fabrik, bei dem die Gewerkschafterin Nuran Gülenc für Deri Is erreichte, dass Desa ein Protokoll unterzeichnete, in dem Melik Celet zusagte, Gewerkschaftsarbeit in seinen drei Fabriken nicht zu behindern, und außerdem die Wiedereinstellung einiger gefeuerter Gewerkschafter versprach. Denn während in Istanbul "nur" Emine Arslan entlassen worden war, hatte Desa in seiner Fabrik in Düzce, 150 Kilometer östlich von Istanbul, gleich 42 Mitarbeiter vor die Tür gesetzt. "In Düzce", erzählt Nuran Gülenc, "hatten wir es fast geschafft. Von den dort knapp 600 Beschäftigten waren nahezu die Hälfte Gewerkschaftsmitglieder geworden. Dann hätten wir wirklich aktiv werden können, doch dann wurden 42 Gewerkschafter gefeuert".
Mitglieder der Druckergewerkschaft Basin Is streiken seit eineinhalb Jahren vor dem Gelände der Firmen Eczacibasi und Giesecke aus München
Schwere Arbeitsunfälle auf den Werften
Weit im Osten, in Tuzla, direkt am Marmarameer, liegt das Gewerkschaftshaus von Limter Is, der Schiffsbaugewerkschaft. Vom Dach des Hauses schaut man auf ein Gewirr von Kränen, riesigen Docks und hunderten Stahlskeletten halbfertiger Schiffe. Tuzla ist das größte Schiffswerftgelände der Türkei. Zuletzt 48 Werften drängten sich hier in einer teilweise künstlich aufgeschütteten Bucht. Schiffsbau ist eine der am schnellsten expandierten Branchen des Landes. Doch heute ist von der Hektik, die hier noch vor einigen Monaten herrschte, nichts mehr zu sehen. Die Hälfte der Werften hat vorübergehend dicht gemacht. Nirgendwo sonst ist der Auftragseinbruch durch die Weltwirtschaftskrise so heftig wie im Schiffsbausektor. "Von 40000 Arbeitern sind in den letzten Monaten 20000 entlassen worden", sagt Cem Dinc, der junge Generalsekretär von Limter Is. Gemeinsam streifen wir durch die Teehäuser im Werftgebiet, doch auch die haben kaum noch Kundschaft. Die Leute sind verschwunden, zurück auf die Dörfer, dorthin, von wo sie vor ein paar Jahren gekommen waren. Schiffsbau in der Türkei ist Frühkapitalismus pur. Auf den Werften wird nur eine minimale Stammbesetzung beschäftigt. "Kaum mehr als 10 Prozent", schätzt Cem Dinc. "Alle anderen sind ungelernte Arbeiter, die über Subunternehmer angeheuert werden und sofort wieder gefeuert werden können." Diese Arbeitsorganisation führt aber nicht nur zur höchstmöglichen Flexibilität im Sinne der Unternehmen, sie hat auch zu einem traurigen Rekord geführt: Nirgendwo sonst gibt es so viele schwere Unfälle, weil ungelernte Arbeiter in ihren gefährlichen Arbeitsplatz nicht richtig eingewiesen werden. Allein in diesem Jahr sind auf den Werften in Tuzla 12 Arbeiter tödlich verunglückt, 2008 waren es 29 Tote. Dazu unzählige Verletzte, viele werden offiziell gar nicht gemeldet.
Limter Is hat deswegen im vergangenen Jahr Alarm geschlagen. Aufgrund der Arbeitsverhältnisse auf den Werften ist der Organisationsgrad sehr niedrig. Ungelernte Gelegenheitsjobber gehen nicht in eine Gewerkschaft. Limter Is erfüllt deshalb nirgendwo die quantitativen Voraussetzungen als Tarifpartner. "Aber die Leute vertrauen uns", sagt Cem Dinc. Die Gewerkschaft hat vor den Werkstoren Demonstrationen organisiert. Viele schlossen sich an, es kam zu großen Arbeitsniederlegungen. Der Staat reagierte mit Härte. "Sie schickten tausende Polizisten, die uns zusammenprügelten." Cem Dinc selbst landete zweimal im Gefängnis. Er ist trotzdem guter Dinge. "Der öffentliche Aufschrei war so groß, dass die Werftbesitzer Zugeständnisse machen mussten." Eine Parlamentskommission rückte an. Die Sicherheitsbestimmungen wurden verschärft. "Wir bekamen viele neue Mitglieder. Wenn hier die Konjunktur wieder anzieht, werden wir unsere Protestaktionen fortsetzen. Egal, ob erlaubt oder nicht."
Rekord-Streik in der Computerbranche
Es gibt aber auch legale Streiks in der Türkei. Sogar Streiks, die für deutsche Verhältnisse schier endlos andauern. Der längste Streik der vergangenen 30 Jahre findet derzeit nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit im größten Industriepark der Türkei, in Gebze, östlich von Istanbul statt. Insgesamt 20 Beschäftigte sind hier schon seit eineinhalb Jahren im Ausstand. "Seit 506 Tagen im Streik", steht auf einem großen Plakat, das die Streikenden an den Zaun des Betriebes gehängt haben. Bei dem Betrieb handelt es sich um eine High-Tech-Fabrik, in der 120 hochqualifizierte Elektrotechniker, Computerspezialisten und Grafiker Kreditkarten und Chips für Handys produzieren. Die Fabrik ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Eczacibasi, einem der größten türkischen Pharma- und Chemiekonzerne, und der deutschen Firma Giesecke aus München. Levent Dincer, der von der Druckergewerkschaft Basin Is die Streikenden betreut, ist stolz auf seine Kollegen, die schon so lange durchhalten. "Seit dem 16. Juni 2008 sind wir im Streik. Als Eczacibasi in den Tarifverhandlungen keinen Einigungswillen zeigte, gingen von den 65 Gewerkschaftern im Betrieb 20 in den Ausstand." Seitdem halten sie in einem alten Van vor den Toren des Betriebes die Stellung. "Immer abwechselnd in drei Schichten", erzählt Metin, ein 50 Jahre alter Familienvater, der seit Gründung der Fabrik dort als Grafiker arbeitet. Ein großes Problem der Streikenden ist, dass es ihnen nicht gelingt, die Öffentlichkeit für ihr Anliegen zu mobilisieren. In dem riesigen Industriepark mit mehr als tausend Firmen, weit entfernt vom Istanbuler Zentrum, werden sie kaum wahrgenommen. "Vor allem aber gelingt es Eczacibasi, eine Berichterstattung in den großen Medien zu verhindern", erläutert Metin das Problem. "Es waren mehrere Fernsehteams hier, aber keiner hat etwas gesendet. Eczacebasi hat mit Anzeigenentzug gedroht."
Gewerkschafter Cem Dinc versucht, die Mitarbeiter der Schiffswerften in Tuzla zu organisieren
"Vielleicht liest ja jetzt in Deutschland jemand von uns", hofft Metin. Er ist nicht der einzige türkische Gewerkschafter, der seine Hoffnung auf internationale Unterstützung setzt. "Die EU muss endlich mehr Druck für Gewerkschaftsrechte machen", fordert Tayfun Güngör von DISK. Und auch bei der Ledergewerkschaft Deri Is ist man überzeugt, dass man ohne die Unterstützung der großen Gewerkschaften in Westeuropa keine Chance hat.
Arbeitslos trotz illegaler Kündigung
Und Emine Arslan? Sie hat gewonnen und dennoch verloren. Fast genau ein Jahr lang hat Emine jeden Tag vor der Desa-Fabrik protestiert. Dann entschied das Arbeitsgericht endlich in letzter Instanz, dass sie im Recht und ihre Kündigung illegal sei. Doch vier Monate später sitzt sie immer noch ohne Job in ihrer kleinen Wohnung. Nach türkischem Recht haben Arbeitgeber, auch wenn sie den Arbeitsgerichtsprozess verlieren, grundsätzlich die Wahl, ob sie den Kläger oder die Klägerin an den Arbeitsplatz zurückkehren lassen oder ihnen eine Abfindung zahlen. In Emines Fall war klar, dass Desa-Boss Melik Celet eine Abfindung zahlt. "Er hasst mich", sagt Emine. Gerade mal 16 Monatslöhne bekam sie am Ende. Ihr Monatslohn betrug umgerechnet 300 Euro. Auch für Deri Is sieht es wieder schlechter aus. Seit der öffentliche Druck nachgelassen hat, weigert sich der Desa-Chef, das vereinbarte Protokoll mit der Gewerkschaft einzuhalten.
Streik für mehr Gewerkschaftsrechte in der Türkei
Für bessere Arbeitsbedingungen und gewerkschaftliche Rechte haben Ende November mehrere hunderttausend Beschäftigte im öffentlichen Dienst der Türkei die Arbeit niedergelegt. Konkret ging es bei den Protesten um die Anerkennung des Streikrechts und höhere Gehälter. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Hak Is, Salim Uslu, sagte, die Regierung solle das Arbeitsrecht ändern und die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) übernehmen. Uslu bezeichnete den Ausstand als Warnstreik. Bislang haben die nahezu zwei Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst zwar das Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, dürfen aber nicht streiken. Die Höhe der Gehälter wird von der Regierung festgelegt. Generell wird Gewerkschaftsarbeit in der Türkei durch eine arbeitnehmerfeindliche Gesetzgebung erschwert: Gewerkschaftliche Betriebsgruppen müssen einen sehr hohen Organisationsgrad aufweisen, bevor sie tariffähig werden.