750 Zuschauer, Eintritt frei, Applaus riesig, Fortsetzung soll folgen ...

Der große Saal des Fürther Stadttheaters ist ein Traum in Neo-Rokoko. Roter Plüsch, schwungvolle Logen, ein gewaltiger Kronleuchter. Eine schöne, bürgerliche Behaglichkeit. Aber auf der Bühne tobt der Zorn. Beatrix Zensner, 42, früher Betriebsrätin bei der Quelle, steht breitbeinig da. Sie reißt die Arme hoch, knallt einen Quellekatalog auf den Boden, noch einen und noch einen. Sie hört gar nicht mehr damit auf. Ihre Kollegen zerrupfen die Kataloge, schnippeln Bilder aus, reißen Lage für Lage auseinander, kicken spielerisch die Überreste hin und her. Die Quelle: Hier wird sie ein letztes Mal gefleddert, am Ende von rund 80 Minuten voller Trauer, Spott und Verzweiflung.

Das Theater muss reagieren

"Wenn sich eine große menschliche Katastrophe vor der Tür ereignet, muss das Theater reagieren", sagt Johannes Beissel, der das Konzept des Abends entwickelt hat. Er hatte Ex-Quellemitarbeiter dazu aufgerufen, ihm Texte zu schicken, Gedichte, Lieder, Persönliches. Zehn haben sich auf das Experiment eingelassen. Darunter Beatrix Zensner. Anfangs wusste Zensner gar nicht, ob ihr Text "wertvoll genug" ist für die Bühne. Im Lauf dreier Probewochen ist ihr klar geworden, worauf es Beissel ankommt: Nicht darauf, die ästhetischen Maßstäbe des Theaters anzulegen. Sondern darauf, dass der Abend ihr gehört. Und ihren früheren Kollegen.

Faxen dick wie der Quelle-Katalog: Betriebsrätin Beatrix Zensner bei der Aufführung in Fürth

Sie haben geprobt und gefeilt. Beissel hat Anregungen gegeben und Wünsche berücksichtigt. Er hat zugehört und Mut gemacht. "Es ist nie zu spät", sagt er, "einem Menschen einen Teil seiner Würde zurückzugeben."

Beissel ist nicht Regisseur, sondern Theaterpädagoge. Und als solcher versteht er sich auch. Er macht gern dokumentarisches Theater. Eines, das die Wirklichkeit nicht flieht. Sondern mit dem umgeht, was da ist. "Weil das Theater ein Ort ist, an dem sich Menschen treffen."

Lange Jahre war Quelle einer der Hauptsponsoren des Theaters. Jetzt, da es mit Quelle vorbei ist, hilft das Theater den ehemaligen Mitarbeiter/innen bei der Verarbeitung ihres Verlusts. Ist das nun also Betroffenheitstheater? "Das sagt man so abwertend. Ich hab gar nichts gegen Betroffenheit. Natürlich will ich berühren", sagt Beissel. "Wenn's schwer und traurig wird, wird's schwer und traurig. Na und?"

Proben? Am liebsten täglich

Alle haben ihre Texte bestens einstudiert, wieder und wieder aufgesagt und sie so ganz allmählich von sich abgerückt. Sind in den Proben noch Tränen geflossen, auf der Bühne zeigen die "Abgewickelten" ihre ganze Souveränität, ihren Witz, ihre Power. Auch Beatrix Zensner. In jedem Satz spürt man ihre außergewöhnliche Kraft. Sechs Jahre lang war sie bei Quelle im Callcenter. Wurde Betriebsrätin. Vorsitzende. "Dann geschah das Furchtbare", sagt sie mit großer, wütender Klarheit in der Stimme. "Ich bin erstarrt vor Angst, ich habe mich überwunden, habe Dinge gelernt, die nicht in meinen ungeübten Kopf passen wollten. In den Nächten habe ich geträumt, geheult und geschrien - so sehr, dass mein Liebster Angst um mich bekam. Ich habe gelernt darüber zu reden, habe mich dabei an ignoranten Wänden kalt geschlagen, bin an der Ohnmächtigkeit und der auferlegten Verantwortung beinahe zugrunde gegangen."

Ob sie etwas falsch gemacht hat, fragt sie sich. Ob sie zu naiv war. Marternde Gedanken nach all diesen Wochen, in denen gekämpft wurde. Und dabei hatte sie, sagt die Betriebsrätin, "doch gerade einmal den Grundkurs von ver.di besucht."

Die Arbeit mit Beissel hat Zensner sehr gut getan, sie hätte am liebsten täglich mit ihm geprobt. Die Ideen, erzählt sie ein paar Tage vor dem Auftritt, seien gewachsen wie die Blätter einer Pflanze. Die Wertschätzung, die Aufmerksamkeit des Publikums, der Schritt auf die Bühne, schließlich der minutenlange Beifall und die stehenden Ovationen: Das ist vielleicht schon eine Art "Therapie", wie Josef Gößl, 57, früher Sachbearbeiter bei Quelle, sagt. Beatrix Zensner sieht das genauso. Und doch bleiben da Wunden, weit über den Abend hinaus. "Die Ungerechtigkeit verletzt, die Ohnmacht. Das Gefühl, so rücksichtslos und würdelos einfach ausgenutzt und weggeworfen worden zu sein." Und natürlich quält die Frage, wie es weitergeht. Ob irgendwo in dieser ausgebluteten Gegend ein vernünftiger Job zu finden ist. Noch ein Kampf, ein einsamer.

Text lernen: vlnr. Annemaria Hallmann, Margot Barbinger, Elisabeth Walter

Am Ende stehende Ovationen

Im Publikum, erster Rang, sitzen Isolde Leibelt und ihre Mutter Ilse Bortlik. Beide haben Jahrzehnte bei der Quelle verbracht. Der graue Pullunder, den Isolde Leibelt trägt, ist von Quelle, ihr roter Schal, der helle Pullover der Mutter: wahrscheinlich ebenfalls von Quelle, sie erinnert sich nicht so genau. Isolde Leibelt hat es geschafft: Seit Anfang Januar arbeitet sie wieder in Teilzeit. Ihre Mutter ist längst in Rente. Die beiden haben es besser als viele andere im Saal. Und doch spürt man, wie jede Szene, jede Geschichte sie berührt. Die Klangschalenperformance, die nackten Umsatzzahlen aus den goldenen Jahren, das Foto von Kolleg/innen, das an die Rückwand des Theaters projiziert wird, all die Erinnerungen an das Familiäre, an die Geborgenheit eines sicher geglaubten Arbeitsplatzes. "Tja", sagt Bortlik immer wieder. "Jaja." Es klingt resigniert. Was soll man auch sagen, wenn alles vorbei ist.