VON Heide Platen

Für Karl-Heinz Günther (59) hört die Welt, die er aus eigener Kraft erreichen kann, im Erdgeschoss hinten auf dem Balkon auf. Sein Haus liegt am Hang. Die Wendeltreppe, die sich in den Garten herabdreht, ist ein für ihn unüberwindbares Hindernis geworden. Auch der erste Stock ist unerreichbar. Vorne endet sein Aktionsradius vorerst an der Haustür. Die Finanzierung einer Rampe für die kleine Treppenstufe zur Straße ist noch ungeklärt. Günther sitzt querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Die Arme kann er bewegen, die Finger, nach innen gekrümmt, sind nur marginal einsetzbar. Den 27. September 2009, das Unfalldatum, werden er und seine Frau Ute nie vergessen können.

Der Tag der Bundestagswahl war es, morgens haben sie gewählt, dann ein sonniger Spätsommermittag. Eine für den geübten Radler eher kleine Tour durch die Umgebung wollten sie machen, einen Teil der Radwanderstrecke "Von Ruhr zu Ruhr" fahren, durch Wiesen, Äcker, kleine Orte, vom Wohnort Hattingen über die Nachbargemeinde Sprockhövel. Da führt eine kleine Straße durch den Ortsteil Hiddinghausen, windet sich dann in Kurven zurück zur A43. Rechts und links wachsen Lärchen, Eichen, Obstbäume. Ute Günther-Kramer fährt Ende Juni 2010 zum ersten Mal wieder zum Unfallort. Dort, zeigt sie, ist ihr Mann vorausgeradelt, hier hielt sie an, um den Durchgangsverkehr passieren zu lassen, fuhr ihrem Mann dann hinterher. Und entdeckte ihn am Straßenrand, auf dem Rücken liegend, der Fahrradhelm zerdrückt, die Arme unter dem Kinn angezogen. Die Ergotherapeutin ahnte bereits damals, dass das keine leichte Verletzung war. Ein Hubschrauber brachte ihren Mann ins Krankenhaus. Das konnte er erst nach einem halben Jahr wieder verlassen, gelähmt, im Rollstuhl.

"Macht Fotos!"

Karl-Heinz Günther erinnert sich nicht daran, aber schon in der ersten Nacht nach dem Unfall habe er, sagen Frau und Tochter, darum gebeten: "Macht Fotos!" Unfallursache waren Schlaglöcher. Einem sei er ausgewichen, in das andere, tiefere, hineingeraten, über den Lenker geschleudert worden. Die Bilder dokumentieren, was der Augenschein auch neun Monate später noch bestätigt: eine eigentlich tadellos asphaltierte, kleine Landstraße - bis auf die gefährlichen rund 20 bis 30 Meter hinter einer nicht einsehbaren Kurve, die zudem auf eine steil abfallende Strecke führt. Dort sind die Schlaglöcher, auch das, welches den Unfall verursachte, auch im Sommer 2010 nur provisorisch geflickt, bröckeln schon wieder. Damals wie heute warnt kein Hinweisschild.

Die Löcher sind wenige Tage nach dem Unfall notdürftig gefüllt worden. Ute Günther-Kramer und die Familie sehen durchaus ein Mitverschulden der Gemeinde Sprockhövel, von der sie sich eine Entschädigung für die teuren, behindertengerechten Umbauten im Haus erhofften. Deren Versicherung lehnte ab. Das Haushaltsdefizit des Ortes mit rund 25 500 Einwohnern ist nicht ganz so hoch wie anderswo, bewegt sich aber wegen gesunkener Gewerbesteuereinnahmen und gestiegener Ausgaben mit über vier Millionen Euro am Rande des Limits.

Karl-Heinz Günther zog seine Klage gegen die Versicherung der Stadt zurück: "Das wäre für uns ein nicht absehbares Kostenrisiko gewesen." Der Streitwert, nach dem die Gebühren berechnet werden, liege bei einer Querschnittlähmung "bei mehreren hunderttausend Euro". Entsprechend hoch wären für ihn die Kosten bei einer Klage durch mehrere Instanzen gewesen. Prozesskostenbeihilfe ist nicht zu erwarten. Dafür hat er als Lehrer zu gut verdient. Da zählt eine zerstörte Existenz in der Zukunft nicht.

Gerichte entscheiden für die Kommunen

Tatsächlich ist die Rechtslage schwer zu überschauen. Meist haben Gerichte bisher für die Kommunen entschieden. Die sind zwar verpflichtet, ihre Verkehrswege regelmäßig zu prüfen und in Ordnung zu halten, bei kleinen, nebengeordneten Straßen muss das aber nicht ständig erfolgen. Ein paar Kontrollen im Jahr reichen aus. Verkehrsteilnehmer müssten sich, so die gängige Rechtsprechung, auf Schäden einstellen und entsprechend vorsichtig bewegen. Das gelte besonders nach einem harten Winter. Nur richtig tiefe Schlaglöcher seien umgehend zu beseitigen. Als richtig tief gelten solche mit mindestens sieben Zentimetern. Im Unfallbericht der Polizei sind drei Zentimeter vermerkt, Ute Günther-Kramer hat damals mit dem Zollstock sieben nachgemessen. Außerdem sei doch im September kein Frost gewesen und ihr Mann auch keinesfalls zu schnell gefahren. Er habe vielmehr heruntergeschaltet, weil er auf sie gewartet habe. Die 65 Kilometer, die die Maximum-Minimum-Skala des Tachometers laut Polizeibericht anzeigte, stammten von einem Urlaub des Sohnes in der Bretagne.

Rechtsanwältin Angelika Manzke hatte geraten, die Klage durchzustehen, aber die Familie nicht gedrängt. Sie könne "im Herzen verstehen", dass die Günthers zurückgezogen haben. Den Gerichtskostenvorschuss für die erste Instanz hatte sie zwar herunterhandeln, aber nicht in die Zukunft schauen können: "Die Gemeinden sind verschuldet. Und die sitzen am längeren Hebel." Denn: "Ich klage letztendlich gegen deren Versicherungen." Und die haben Zeit und Geld und "gehen regelmäßig bis in die letzte Instanz", ein Kampf über Jahre. Das hätte die Günthers, wie viele andere in ähnlicher Situation auch, sowohl finanziell wie psychisch "hochgradig belastet".

Fürsorgepflicht verletzt

Im Sprockhöveler Tiefbauamt erinnert sich Mitarbeiter B. an den Unfall: "War das die Helsdorfer Straße?" Den Vorgang hat er schnell gefunden. Er findet den Unfall "tragisch". Unbestritten sei, dass es Schlaglöcher gegeben habe, vielleicht werde die Straße "durch die Wasserführung" immer wieder unterspült. Warum es noch immer kein Warnschild gibt, weiß er nicht und möchte dazu auch nichts sagen. Er verweist auf seinen Chef, Tiefbauamtsleiter S.. Auch der mag nicht namentlich genannt werden. Für Warnschilder sei seine Behörde auch gar nicht zuständig. Er handle auf Anweisung und habe bisher keine erhalten. Dafür seien die Polizei, vielleicht das Ordnungsamt oder die jährlich tagende Unfallkommission zuständig.

Karl-Heinz Günther in dem für ihn umgebauten Erdgeschoss seines Hauses

Das verwundert Rechtsanwältin Angelika Manzke. Ihrer Meinung nach verlange die Fürsorgepflicht eindeutig von der Gemeinde, Verkehrsteilnehmer rechtzeitig zu warnen und Schäden "wenigstens provisorisch" auszubessern. Der Bürgermeister der Stadt, Klaus Walterscheid (SPD), war Anfang Juni weniger öffentlichkeitsscheu. Er posierte mit dem Landrat und einer benachbarten Amtskollegin gemeinsam auf der Wittener Straße, um die dortigen Schlaglöcher zu beklagen. Für deren Entfernung ist finanziell allerdings das Land Nordrhein-Westfalen zuständig.

Karl-Heinz Günther, graue Haare, freundliche grünbraune Augen, umgeben von Lachfältchen, ist eigentlich keiner, der schnell resigniert. Schon im Mai begann der Mathematiklehrer seine Wiedereingliederung in der Verwaltung seiner Bochumer Berufsfachschule, zunächst einen Tag pro Woche. Die Schule berät derzeit darüber, welche behindertengerechten Umbauten nötig sind und wie sie finanziert werden können. Über die Hürden auf dem Arbeitsweg helfen vorerst Familie und Kollegen hinweg. Ein neues, rollstuhltaugliches Auto müsste angeschafft werden. Frührentner möchte Karl-Heinz Günther nicht werden. Er hofft, "nach den Sommerferien wieder in ein richtiges Arbeitsleben einzusteigen".


Achtung: Städte und Gemeinden in Not

Die Kieler Landesregierung will die Mittel für den Landes-straßen- und Wegebau bis 2012 um 12,2 Millionen Euro kürzen. Viele Kommunen wollen künftig an der Straßenbeleuchtung sparen.

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Melden Sie uns Ihren Fall

In der Berliner Torstraße klafft seit Monaten ein tiefes Schlagloch. Wenn man mit dem Auto drüber fährt, meldet sich geräuschvoll die Achse. Wie viele mit dem Fahrrad dort schon zu Fall gekommen sind - man weiß es nicht. Sie melden sich nicht, schieben stattdessen ihr Rad mit einer Acht im Vorderrad und ihre Blessuren nach Hause. So auch ein Radfahrer aus Köln, der dort mit seinem Zweirad in ein Schlagloch geriet und sich durch den Sturz eine Rippe brach. Über Wochen hat er den schmerzhaften Rippenbruch auskuriert, auf die Idee, die Stadt Köln zu verklagen, ist er nicht gekommen.

Quer durchs Land ziehen sich die Gefahrenstellen auf den Straßen. Hingewiesen wird auf sie in den allermeisten Fällen nicht. Der Unfall von Karl-Heinz Günther (siehe Text) mag ein tragischer sein, aber er ist auch symptomatisch für den schleichenden Verfall, nicht nur der Straßen und öffentlicher Einrichtungen, sondern auch der Sitten. Städte und Gemeinden schieben die Verantwortung für ihre Bürger/innen weit von sich, und die haben schon längst aufgegeben, die Fürsorgepflicht einzuklagen.

Das muss sich wieder ändern. Melden Sie uns Fälle, Ihren Fall, unter www.gerecht-geht-anders.de