Ausgabe 08/2010-09
Sehen
Von Kirsten Liese |Letzte Gespräche
Das Ende ist mein Anfang | Das junge deutsche Theater mit seinen unverfrorenen Klassikerdemontagen hat ihm nichts mehr zu bieten, im Kino aber kann sich Bruno Ganz über mangelnde attraktive Angebote nicht beschweren. Ob als Hitler (Der Untergang), einfühlsamer Großvater (Vitus) oder alternder Charmeur (Giulias Verschwinden) – stets besticht er mit seinem authentischen Spiel. Der weltberühmte, 2004 verstorbene Autor und Journalist Tiziano Terzani ist eine weitere Paraderolle. Jo Baier hat das gleichnamige Buch des Italieners Das Ende ist mein Anfang, herausgegeben von seinem Sohn Folco, treffend dramatisiert. Ergebnis ist ein Kammerspiel der leisen Töne. Kurz vor seinem nahenden Tod bittet der Alte seinen Sohn zu sich, um ihm seine Geschichte zu erzählen. Sie beginnt, als sich sein Lebenstraum erfüllte, Südostasienkorrespondent des Spiegel zu werden und Zeitgeschichte aus nächster Nähe zu erleben: den Vietnamkrieg in den 1970er Jahren, die Zeit in China nach Mao und die monströse Kunstwelt Tokios in den 1980er Jahren. Doch desillusionierte ihn auch der schleichende Abfall von einem Glauben an eine revolutionäre Politik. Unweigerlich zieht man Parallelen zur Gegenwart, zur eigenen Politikverdrossenheit, so lebendig und emotional rekapituliert Bruno Ganz das alles im intimen Zwiegespräch mit seinem Gegenüber. Aber dies ist nicht nur ein pessimistisch stimmender Film, sondern ein kraftvoller, der Mut macht, dem sonst so gefürchteten Tod mit Gelassenheit zu begegnen. Bei aller Skepsis für spirituelle Erfahrungen: Mit Scharlatanerie oder fragwürdiger Esoterik hat das nichts zu tun. Letztlich dreht sich alles nur um eine andere Einstellung zum Leben, die sich Terzani erwarb, als er eines Tages an Krebs erkrankte, in den Himalaya reiste und sich in die Hände eines Weisen begab. Dort lernte er, sich selber nicht wichtiger als einen Marienkäfer zu nehmen, keine großen Dinge mehr zu wollen und sich im Einklang mit der Natur zu fühlen. Am Ende sei er nun ein Namenloser, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit, sagt Bruno Ganz als Terzani, so dass er lebenssatt sterben könne. Etwas von dieser ungeheuren Ruhe färbt auf den Zuschauer ab, man empfindet Trost bei dem Gedanken an einen schweren Abschied und sehnt sich nach ähnlichen Schlüsselerlebnissen. Kirsten LieseD/I 2009. R: JO BAIER. D: BRUNO GANZ, ELIO GERMANO, ERIKA PLUHAR. 98 Min.
Die Entbehrlichen | Jakob lernt früh, was es heißt, ein Loser zu sein. Sein Vater kriegt nur miese Jobs, verliert diese gleich wieder und ertränkt seinen Frust im Alkohol. Die Mutter, ebenfalls eine Trinkerin, muss nach einem Ehestreit ins Krankenhaus und verlässt die Familie. Als wäre das nicht alles schon viel zu viel für
einen Elfjährigen, muss Jakob noch von einer Klassenfahrt zurücktreten, weil niemand die Kosten übernimmt. Als sich sein Vater in einem Verzweiflungsakt erhängt, steht der Junge alleine da. Mit seinem ehrlichen Blick auf das wachsende soziale Elend am Boden von Hartz IV ist der Film offenbar politisch so unbequem, dass der Regisseur ähnliche Erfahrungen machen musste wie seine Protagonisten: Er wurde ausgegrenzt, erhielt keine Fördergelder, und finanzierte den Film schließlich aus eigener Tasche. Ein Skandal: Noch nicht einmal die Juroren des Deutschen Filmpreises wollten sich das brisante Sozialdrama ansehen. kl
D 2009. R: ANDREAS ARNSTEDT. D: ANDRÉ HENNICKE, STEFI KÜHNERT, OSKAR BÖKELMANN, MATHIEU CARRIÈRE. 105 MIN., KINOSTART: 30.9.
Black Death | Blühende Bäume, das gepflegte Pfahldorf im Sumpf hinter dem Wald: eine Idylle. Wären da nicht die vielen Toten in der Stadt, die traumatisierten Überlebenden und diese Ketzerjäger, für die Foltern und Morden zum Jobprofil gehört. 1348, das erste bittere Jahr der Pest, hat Regisseur Christopher Smith für mehr als eine gruselige Historie benutzt. Die Bilder dieses Mittelalters verweisen subtil auf die Kriege und Massengräber der Gegenwart, die Erklärungsmuster auf zeitgenössische Religionskonflikte. Gefilmt in Brandenburg und Sachsen-Anhalt mit britisch-holländischem Cast (Sean Bean, Carice van Houten, Andy Nyman, Tim McInnerney), mutiert eine der größten Katastrophen in der Geschichte Europas zum Kern eines extrem spannenden Thrillers. Der mit Abstechern in benachbarte Filmgenres so souverän umgeht wie mit den Männerritualen der Folterchristen oder der seltenen Darstellung verdächtig matriarchaler Heidinnen. jv
GB/D 2010. R: CHRISTOPHER SMITH. D: SEAN BEAN, ANDY NYMAN, CARICE VAN HOUTEN, TIM MCINNERNEY, EDDIE REDMAYNE, 102 MIN., KINOSTART 9.9.10
Mammuth | Kaum die Verabschiedung nach zehn Jahren als Schlachter überstanden – und einen Tag nichts tun bzw. nicht streiten – wuchtet Mammuth (Gérard Depardieu) den schlaffen Leib samt fettigem Langhaar auf sein Motorrad (eine alte Münch-Mammut). Um fehlenden Rentenbelegen und ehemaligen Jobs hinterherzufahren. Oder seinen Fehlern. Die Gelegenheit für einen Sommertrip durch die Charente der Teiche, Supermärkte und Motels, ein Frankreich der Verlierer, Träumer und Betrügerinnen. Ausgeraubt trifft er am Strand nicht auf Erholung, sondern einen Metalldetektorbenutzer (Benoît Poelvoorde), der ihn sofort als Konkurrent um Münzen und Schmuckstücke erkennt. Das Skurrile dieses Roadmovies trägt neben dem Monument Depardieu auch Yolande Moreau als besorgt-aggressive Gattin. Und Isabelle Adjani, die blass und blutend wie im Japanhorror an einen fatalen Motorradausflug erinnert... jv
F 2010. R: BENOÎT DELÉPINE, GUSTAVE KERVERN. D: GÉRARD DEPARDIEU, YOLANDE MOREAU U. A., 92 MIN., KINOSTART 16.9.10